»Priyanka Sharma!«
Mutter schreit – schon wieder. Das macht sie oft, müsst ihr wissen. Alle Frauen
in der Familie meiner Mutter sind im stolzen Besitz dieses lauten, nervtötenden
Organs, das außerdem dafür verantwortlich ist, dass sie bei allem und jedem
schreien müssen. Fragt mich nicht warum. Habe selbst keinen Schimmer ... Ihr
wisst nicht wie froh ich bin, dass ich mehr nach Vater gehe. Und trotzdem
konnte es sich Mutter einfach nicht verkneifen, mir doch noch ein Erbe
aufzudrücken, das keinen Zweifel daran ließ, wer die Tochter von Rhea Sharma
ist. Und dann noch etwas, dass sich nicht kaschieren lässt, weil es mitten im
Gesicht sitzt – ihre berühmte Höckernase.
»Priyanka Sharma!« Mutter keucht die
Treppenstufen hinab. Ihr weißer Sari schlägt um ihre Knöchel. Ich weiß, dass es
gleich gewaltigen Ärger geben wird. Wenn Mutter mich bei meinem vollen Namen
ruft, kann es nichts Gutes heißen. Und als würde Mutter meinen Gedanken
bestätigen wollen, murmelt sie: »Na warte, du freches Gör, du. Na warte.«
»Was habe ich jetzt schon wieder
angestellt?«
Am Treppenabsatz angelangt, hält Mutter
schnaufend inne. Dann wandert ihr Blick von meinem Haaransatz zu meinen
Zehenspitzen. Verblüfft schaue ich zu mir runter. Vielleicht geht sie ja so ab,
weil ich irgendeinen Fleck auf meinem T-Shirt habe. Mutter hasst das. Ihr wisst
nicht, was für eine Standpauke ich mir letztens anhören musste, weil ich meinen
grünen Sari aus Versehen mit Chicken Tikka Masala vollgekleckert hatte. Mir war
es Recht.
Ich habe diesen kratzigen Fummel gehasst.
»Du willst mir nicht ernsthaft so«, mit dem Kinn zeigt sie auf meine
Klamotten und verzieht das Gesicht, als habe sie gerade in einen von Vaters
Schuhe gerochen, »aus dem Haus gehen, hm?«
Ich starre erneut zu mir runter und werfe
Mutter einen entnervten Blick zu. Ich trage ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift
›Rock sells‹, meine Lieblingsjeans,
die seit meinem ersten Skateboard Training bei Rohit am linken Knie zerrissen ist
und meine schwarzen Sneakers. Zugegeben, die waren nicht mehr die Neusten. »Ne,
weißt du? Ich wollte mir vor der Tür die Klamotten vom Leib reißen und nackt
durch die Straßen von Mumbai laufen.«
»Die wird mir frech. Frech wird die mir«,
murmelt Mutter, als spräche sie gerade zu jemand Bestimmten. »Das erzähle ich
deinem Vater!«
Ich zucke mit den Achseln. Vater würde mir
wie immer Hausarrest aufdrücken, um Mutter ein wenig zu besänftigen. Und ich würde
mich halt wieder rausschleichen müssen.
So einfach ist das.
»Du bist eine Mahila (Bezeichnung einer Dame), Priya. Kein
dreckiger Slumdog aus Dharavi. Wie oft muss ich dir das noch erklären?«
»Slumdogs können sich keine Converse
Sneakers leisten, Mutter«, sage ich grinsend. Doch das Lachen vergeht mir
schnell wieder, als Mutter mit der blanken Hand gegen meinen Oberarm schlägt. »Au!«
»Zieh das aus, Priya!«, schreit Mutter.
»Und deine Haare! Hast du denn nie gelernt, dass man sich auch mal die Haare
kämmen muss? Eine Mahila …!«
Ich unterdrücke ein breites Grinsen und
täusche ein Hüsteln vor. »Hast es mir nie beigebracht.«
»Rahul! RAHUL!«, ruft Mutter und blickt
hilflos in die Runde. Ich weiß es aber besser: Vater hat seit über einer Stunde
das Haus verlassen. Dieses Mal können sie mich nicht im Doppelpack
fertigmachen. »O steht mir bei, ihr Götter! Welch freches Gör habt ihr in
meinem Leib heranwachsen lassen?«
Mutter murmelt vor sich hin und streicht
über ihren roten Bindi (ein
Punkt, der mitten auf der Stirn aufgemalt wird, wo das energetische dritte Auge
vermutet wird). Das macht sie immer,
wenn sie sich gerade den Kopf darüber zermattert, welche Strafe sie mir dieses
Mal auferlegen kann. Ich seufze innerlich und verschränke die Arme vor der
Brust.
»Mach schnell, Mutter. Shreya wartet.«
Mutter formt ihre Augen zu Schlitzen und hebt
ihre Hand, mit der Absicht mir einen weiteren Schlag zu verpassen, doch das
Klingeln des Telefons lässt sie innehalten. Es klingelt und klingelt wieder.
Unschlüssig, ob sie in das Wohnzimmer rennen oder mir doch noch den zweiten
Schlag verpassen soll, verzieht sie kurz den Mund. Dann eilt sie mit einer Geschwindigkeit,
die ich bei ihr nie für möglich gehalten habe, in das Wohnzimmer. Okay, das ist
nicht ganz richtig. An dem Tag, als sie mir mit einem Stock durch das Haus
gejagt ist, scheint sie noch einen Ticken schneller gewesen zu sein. Ihr wisst
nicht, wie schnell Mutter rennen kann, wenn sie erst einmal in Rage ist.
»Namaste, Rhea Sharma am Apparat. Mit wem
spreche ich da? O Tanya! Herzallerliebste Tanya! Du weißt nicht, wer mich
wieder am Rande meiner Nerven bringt …«
Ich nutze diesen Augenblick und schleiche
mich aus dem Haus. Zwar weiß ich, dass es am Abend ein Donnerwetter geben wird,
schlimmer sogar, aber das ist mir egal. Ich habe keine Lust die Lästereien von
Mutter und ihrer Busenfreundin ertragen zu müssen, die natürlich meiner
Wenigkeit gelten.
Ich renne die
Treppenstufen hinab und eile durch unseren Vorgarten. Der Rasen ist
feinsäuberlich geschnitten und auf ihm weilen Statuen indischer Götter. Ich
blicke zu meiner Rechten und Vishnu, das Gleichgewicht zwischen Brahma, dem Schöpfer, und Shiva, dem Zerstörer, lächelt mir
entgegen. Ihr müsst mal unseren Hauptgarten gesehen haben. In ganz Bandra ist
bekannt, dass die Gärten der Sharmas besonders ansehnlich sind. Manchmal kommen
sogar weiße Touristen, um unseren Vorgarten abzulichten. Babu, unser Diener,
muss sie dann jedes Mal verjagen. Mutter liebt diesen Rummel um ihre Gärten
natürlich, obwohl sie von außen hin jedes Mal vorgibt, ihr würde das Ganze
schrecklich auf die Nerven gehen.
Am Eingang bin ich fast mit Shrimati (Indisches
Wort für die [respektvolle] Bezeichnung einer Frau) Naina zusammengestoßen.
Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren im Dienste der Sharmas und hatte mich
großgezogen, während Mutter und Vater ihren Geschäften nachgingen.
Shrimati Naina
hat sich mit ihrem Sari an einem Cocastrauch verheddert und nun große Mühe gehabt,
sich wieder zu befreien. Ich helfe ihr.
»Kumari Priya«, seufzt sie und fasst sich
ans Herz.
»Lassen Sie das von wegen Kumari, Shrimati
Naina«, meckere ich, als es mir endlich gelungen ist, das grüne Stück Stoff vom
Strauch zu lösen. Kumari ist die Bezeichnung einer Mahila in Indien; einer Lady.
»Kumari Priya«, sagt Shrimati Naina erneut
und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich rolle mit den Augen. Sie wird
es wohl nie lernen. »Sie haben mir einen großen Schrecken eingejagt. Warum
haben Sie es so eilig, dass sie es sogar in Kauf nehmen, ihre Mitmenschen zu
gefährden, hm?«
Ich schweige und blicke auf den Boden. Vor
ihr ist es mir peinlich, zu gestehen, dass ich mich wieder aus dem Haus stehlen
will. Aber sie scheint anhand meines schuldbewussten Gesichtsausdruck zu ahnen,
was ich vorhabe.
»Sie schleichen sich aus dem Haus,
Kumari«, stellt Shrimati Naina kopfschüttelnd fest. »Ihre Eltern werden sehr wütend
werden.«
»Das ist mir egal«, sage ich trotzig und
verschränke die Arme vor die Brust. »Mutter regt sich auf, weil ich nicht wie
eine Mahila rumlaufe. Am liebsten
hätte sie mich mit Sari und Bindi.«
Shrimati Naina schürzt die dünnen, faltigen
Lippen.
»Sie müssen ihre Mutter verstehen, Kumari
Priya«, säuselt sie dann. »Sie möchte nur, dass Sie mit ihrem rebellischen Auftreten
nicht auch noch ihre potenziellen Interessenten verjagen.« Jedes Mal, wenn
Shrimati Naina dieses Thema anspricht, könnte ich kotzen. »Schließlich wollen
wir alle, dass unsere Kumari einen hübschen Edelmann abkriegt, nicht?« Sie zwinkert.
Ich atme tief ein und unterdrücke einen
Seufzer. »Tut mir leid, aber ich muss los. Shreya wartet schon. Wenn Mutter
fragt, ich bin auf der Kirmes.«
Ich eile durch das silberne Eingangstor.
Hinter mir höre ich Shrimati Naina noch »Komm nicht zu spät, Kumari! Heute gibt
es Roghan Josh (indisches Lammgericht) zum Abend!«
rufen, bevor das Tor mit einem lauten Bumm
in das Schloss fällt.
Mittags ist es
auf den Straßen von Bandra, einem vornehmen Stadtteil Mumbais, so laut wie in
einem Stadion in der WM-Saison. In einer Ecke streitet man sich, weil ein
Autofahrer einem Fußgänger um ein Haar über die Füße gefahren ist; denselben
Moment nutzt ein kleiner Junge, um einer alten Dame das Portemonnaie aus ihrer
braunen Krokotasche zu fischen; und in einer anderen Ecke lässt ein Mann üble
Flüche fallen, nachdem er einen fetten Kratzer in seinem roten Porsche entdeckt
hat.
Die Luft in
Bandra ist staubtrocken. Die Sonne steht im Zenit und brennt mir auf die
schwarzen Haare. Es ist so heiß, dass ich es einen Augenblick lang bereue, das
Haus nicht tatsächlich splitterfasernackt verlassen zu haben.
Vor mir sehe ich
den Bus, der zur Kirmes fährt. Mein Magen dreht sich zweimal, als ich die Menge
sehe, die sich in ihn hineinzwängt. Ich atme tief ein und kämpfe mir einen Weg
zum Bus, bevor dieser ohne mich wegfahren konnte.
Im
Bus stinkt es nach einer Mischung von Schweiß und Fürze, die wahrscheinlich vom
dicken Shriman
(Indisches
Wort für die [respektvolle] Bezeichnung eines Mannes) kommen. Er ist so
widerlich, ich könnte kotzen. Das Allerschlimmste ist aber, dass ich direkt
neben ihm stehe. Vor uns kichern eine Gruppe von Mädchen in meinem Alter, die
die Definition von dem verkörpern, was Mutter unter Mahila versteht. Sie tragen allesamt bauchfreie Saris, Bindis und ihre langen
Haare zu einem frisierten Dutt. Der dicke Shriman gafft sie an, als seien sie
eine übergroße Portion Chicken Tikka Masala.
»Haltestelle Santacruz!«, ruft der Fahrer und erlöst mich von dem perversen
Shriman. Ich springe aus dem Bus und sehe mich nach Shreya um. Ich sehe sie auf
einer Mauer sitzen und eile ihr entgegen. Shreya Chopra ist wie ich: Siebzehn
Jahre alt und Schülerin an der St. Theresa‘s High School. Außerdem trägt sie auch
lieber bequeme Jeanshosen und T-Shirts statt Saris. Ein dicker goldener Klunker
schmückt ihre Nase. Das Piercing hat sie sich vor vier Wochen stechen lassen,
um von der Breite ihrer Nase abzulenken, obwohl ihre Eltern strikt dagegen
gewesen waren. Sie bekam Hausarrest und wir konnten uns einen ganzen Monat nur
noch in der Schule treffen.
»Hey Shreya!«, rufe ich.
Shreya fährt sich durch das schulterlange,
blondierte Haar und grinst.
»Schon mal auf die Uhr geschaut, Priya?«
»Du weißt doch, wie Mutter ist ...«
Shreya springt von der Mauer und klopft
sich den Dreck vom Hintern. Zusammen machen wir uns auf den Weg auf die Kirmes.
»… meinte
Akshita. Die sollen dort richtig hübsch sein, Priya! Mit tiefdunklen Augen und
Armen so muskulös und stark, die könnten es mit zehntausend Mann aufnehmen, wenn
es sein müsste.« Shreya seufzt lang anhaltend und ich rolle die Augen.
Shreya ist nicht ganz so wie ich. In einem Punkt unterscheiden wir uns drastisch
voneinander. Sie kann gar nicht aufhören von hübschen Jungs zu reden, während
ich mich überhaupt nicht für das andere Geschlecht interessiere. Shrimati Naina
findet das äußerst bedenklich, aber Mutter meint ich sei lediglich ein
Spätzünder.
»Irgendwann, wenn der Prinz in ihrem Leben
reitet, wird unsere Priya gar nicht anders können, als sich in ihn zu verlieben«,
hatte Mutter einmal gesagt. Und ich hatte große Mühe gehabt, mein Mittagessen
bei mir zu behalten.
»Die Jungs in der Kirmes sind ganz anders
als die schlaksigen, großmäuligen Jungs aus der St. Theresa’s High School.«
Shreya packt nach meiner Hand. »Los, beeilen wir uns! Sonst bleibt uns bei den
ganzen Mahilas keiner mehr übrig!«
Sie zieht mich durch Menschenmengen. Hier
und da ernten wir Schläge von empörten Damen und Herren, die uns dennoch nicht
davon abhalten können, uns einen Weg durch die engen Gassen von Santacruz zu
erkämpfen.
Die Kirmes ist rappelvoll und in ihr ist
es noch lauter, als auf den Straßen von Mumbai, was ich erst für unmöglich
hielt. Shreya und ich müssen uns anbrüllen, um einander verstehen zu können.
»Wohin willst du zuerst, Priya?«, schreit
Shreya.
Mein Magen knurrt. »Lass uns etwas Essen
gehen! Ich habe einen Mordshunger!«
Shreya nickt und zeigt auf einen
Imbisswagen, auf dessen Schild die Worte Chachi
Tyala (übersetzt: Tante Tyala) prangen. Wir
drängeln uns vor und Shreya bestellt uns beiden Panipuri. Gerade als ich mir
einen Puri gefüllt mit Kartoffeln, Kichererbsen, Zwiebeln und Chili in den Mund
schieben will, spüre ich einen harten Schlag auf meinem Oberarm. Ich schrecke
zusammen – mein Puri fällt auf den Boden.
»Geht’s noch?«, fauche ich und sehe in das
feixende Gesicht von Darshan Sharma.
»Tut mir leid, Cousinchen«, grinst er.
»Ich hol dir einen neuen Panipuri, ja? Aber nur einen.«
»Brauchst du nicht.« Ich verschränke die
Arme vor die Brust. »Außerdem blutest du aus der Nase. Sieht hässlich aus.«
Darshan wischt sich mit dem Handrücken die
Nase und schmiert sich den Blutfilm an die Hose.
»Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung
mit ’n Paar Kapurs«, sagt er stolz. »Meine Crew und ich haben denen ordentlich
einen aufs Maul gehauen. Meinten wohl, die könnten sich einfach so in unserem
Revier aufhalten.«
Shreya schiebt sich einen Panipuri nach dem
anderen in den Mund. Sie findet meinen Cousin überaus gut aussehend und kann
ihre Augen gar nicht von ihm lassen. Und ich könnte kotzen, so sehr nervt mich
dieser eingebildete Sack gerade.
»Du und deine Crew, Darshan? Du und deine
Crew?«, ich schnaube verächtlich. »Die Sharmas besitzen kein Revier. Das heißt,
dass sich jedermann frei in Bandra bewegen kann. Auch die Kapurs. Außerdem ist
es eine Sache zwischen Vater und Shriman Kapur. Euch hat das Ganze überhaupt
nicht zu interessieren.«
Mittlerweile haben sich ein Dutzend Jungs
der Sharma-Crew um Darshan versammelt und werfen mir einen grimmigen Blick zu.
Die Sharma-Crew sieht es seit einem halben Jahrzehnt als ihre Aufgabe, Kapurs
zu jagen und zu verprügeln, mit der Ausrede, dass es sich nun einmal um Kapurs handelt. Der Konflikt zwischen
den Sharmas und den Kapurs reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Shriman Kapur
soll meinem Vater Rahul Sharma angeblich ein Vermögen von hundert Millionen
Rupien gestohlen haben. Zwanzig Jahre hatten sich beide Oberhäupter der Sharmas
und Kapurs bekriegt. Die Sharmas verlangten ihre Rupien zurück, doch die Kapurs
waren sich keiner Schuld bewusst und dachten noch nicht einmal daran, den
happigen Betrag von hundert Millionen Rupien zu zahlen. Nun ist Zeit vergangen
und tatsächlich auch Gras über das Ganze gewachsen. Es herrscht zwar noch immer
eine gewisse Aversion zwischen den beiden Familien, doch hat man sich geeinigt,
sich einfach aus dem Weg zu gehen.
Nur die Kinder
der Sharmas und Kapurs und die Kinder derer Diener wollen nicht so recht
begreifen, dass die Schlacht zwischen den beiden Familien Vergangenheit ist.
Mit ihren Kämpfen lassen sie den Konflikt erneut aufflammen, sodass der
Ausbruch eines erneuten Familienkriegs droht. Gut, ich habe auch nicht viel für
die Kapurs übrig. Ihre hochnäsige, eigensinnige Art macht es nicht einfach, sie
zu mögen.
»Uns hat es nicht zu interessieren, Priya? Nicht zu interessieren?«, zischt
Darshan zwischen seinen Zähnen. »Die Kapurs sind elendige Diebe! Denen muss man
die Leviten lesen, nicht Jungs?«
Darshan sieht in die Runde und seine Crew
grölt wie aus einem Munde: »JAWOHL!«
»Dem Großmaul von Kapur muss der Mund
gestopft werden!«, kreischt Darshan. »Keiner redet schlecht über die Sharma,
ohne derbe Konsequenzen zu erwarten!«
»JAWOHL!«
»Niemand legt sich mit den Sharmas an!
Jeder, der es wagt, unterzeichnet sein eigenes Todesurteil!«
»JAWOHL!«
»Sharma über jeden!«
»SHARMA ÜBER ALLES!«
Jubelnd kämpfen sich Darshan und seine
Crew einen Weg durch die Menge und verschwinden in ihr, wie von ihr verschluckt.
Shreya und ich
schlendern durch die Kirmes. Uns beiden ist die Lust vergangen, das Karussell
oder das Riesenrad zu besteigen. Ich bin nach dem Treffen mit der Sharma-Crew
nur noch genervt und Shreya ist von den Panipuris schlecht geworden. Der Sharma
vs. Kapur Streit wird noch ein schlechtes Ende nehmen. Ich habe es ganz fest im
Gefühl. Irgendwann wird es richtig eskalieren und dann werden mir Darshan und
seine Sharma-Crew die Schulter klopfen, weil ich recht hatte.
»Erzähl mir was über Darshan.«
»Shreya!«
»Komm schon, Priya«, bettelt Shreya. »Verrat mir«, sie schürzt die
Lippen, »wie alt er ist.«
»Das weißt du doch schon.«
»Hab’s wieder vergessen«, quengelt Shreya
und pikst mir so lange in den Arm, bis mir die Sicherungen durchbrennen.
»Neunzehn, okay! Er ist neunzehn. Und wenn
du ein bisschen rechnen könntest, wüsstest du das. Er war schon immer zwei
Klassen über uns gewesen.«
»Wieso hast du mir nie erzählt, wie gut er
jetzt aussieht?«
Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und kann
mich in letzter Sekunde davon überzeugen, dass es wohl keine so gute Idee wäre,
jetzt laut loszubrüllen.
»Ich meine«, schwärmt Shreya weiter, »gut
schöne Augen hatte er schon damals gehabt. Aber das ist für einen Sharma nichts
Besonderes. Alle Sharmas haben wunderschöne grüne Augen. Wie ich dich beneide,
Priya. Ich muss mich mit meinen langweiligen braunen Augen zufriedengeben.«
Shreya seufzt und kratzt sich am Kinn. »Aber die muskulösen Arme, dieses
markante Kinn und die breiten Schultern«, sie beißt sich auf die Unterlippe und
zeichnet mit ihren Händen das breite Kreuz eines Mannes in die Luft, »hatte er
damals nicht gehabt, oder? Das hätte ich schließlich gemerkt!«
»Er ist ein Dummkopf«, sage ich mit der Hoffnung
ihrer Schwärmerei Einhalt zu gebieten. »Vergiss den besser.«
Shreya packt meinen Arm und
hyperventiliert. Erschrocken sehe ich in die Runde.
»Was ist?«, keuche ich panisch. »Sag, was
los ist!«
»Paati
Pooja’s Zukunftsvisionen«, liest Shreya von einem dreckigen Ladenschild.
»Sie kann mir mit Sicherheit sagen … O, lass uns reingehen, Priya! «
»Fünfhundert Rupien für eine Vorhersage?«
Fassungslos starre ich auf die Preisliste. »Will die mich eigentlich ver-«
»Das ist eine gute Investition, Priya,
komm schon!« Ohne auf meine Antwort zu warten, zerrt mich Shreya in den Laden
hinein.
In ihm ist es
noch stickiger als in Vaters alter Schuhkommode und noch wärmer als in einer
Sauna. Es ist ein kleiner Raum; lediglich ausgestattet mit einem durchlöcherten
Teppich und einem kleinen Rundtisch mit drei Stühlen, auf dem eine Glaskugel
weilt, die von zwei alten Händen geliebkost wird.
»Gäste. Paati Pooja hat immer gerne Gäste,
o ja.«
Paati Poojas graue Haare stehen zu Berge.
Sie trägt einen violetten Sari, an dem weißer Plüsch befestigt ist. Ihre Augen sind
milchig und verleihen ihr einen leicht wahnsinnigen Blick. Sie ist blind.
»Lass uns verschwinden«, zische ich Shreya zu.
Sie zerrt mich aber zu den beiden Stühlen vor Paati Pooja. Unbehaglich lasse
ich mich auf einen klapprigen Stuhl fallen.
»Wie kann euch Paati Pooja behilflich
sein?« Sie faltet ihre sehnigen Hände ineinander und blickt ins Leere.
Shreya atmet tief ein und fährt sich durch
das blondierte Haar. Das macht sie immer, wenn sie aufgeregt ist.
»Also …«
»Na, na«, macht Paati Pooja und hält
Shreya ihre Hand entgegen. »Erst die Moneten.«
»O, natürlich!« Shreya läuft rot an und
fünfhundert Rupien wechseln den Besitzer. »Ich wollte Sie fragen … Ich will wissen
… Wann werde ich meine bessere Hälfte treffen?«
Ich werfe Shreya einen entgeisterten
Blick zu.
Sie schwärmt
gewöhnlich von hübschen Jungs, nur ist
es das erste Mal, dass sie darüber nachdenkt, den Richtigen zu treffen, um mit
ihm eine Bindung einzugehen. Ich könnte kotzen, ehrlich.
Paati Pooja legt beide Hände auf die Kugel
und wirft ihren Kopf in den Nacken. »O Kugeli, o Kugeli. Was offenbarst du mir
heute?«
Eine gefühlte Ewigkeit bleibt es ruhig im
Raum und ohne hinschauen zu müssen, weiß ich, dass Shreya der alten Frau an den
Lippen hängt. Dann durchbricht Paati Pooja’s Schmatzen die Stille.
»Ein hübscher Bub
im Mondlicht,
wird dir
vernebeln die ganze Sicht.
Nimmer erwartet
hättest du
den Dieb, der
stielt dein Herz im Nu.
Ein Sommertag? O
nein, nein, nein.
Ein Wintertag?
Wär fein, fein, fein.
Am Frühling denn?
Vielleicht, aber ein
Brückentag wird’s
sein, sein, sein.«
Shreya keucht auf
und packt nach meiner Hand.
»Und was kann ich für Sie tun?«, fragt
Paati Pooja mir zugewandt. »Dieselbe Frage? Oder doch eine andere?«
»Ich will gar nichts wissen. Ich glaube
Ihrem Hokuspokuskram nicht«, sage ich und will schon aufstehen, als Paati Pooja
mein Handgelenk umfasst. Erschrocken starre ich auf ihre langen, gelben
Fingernägel.
»Testen Sie mich. Erlauben Sie mir die
Kugel über Ihre Person auszufragen. Womöglich haben Sie recht und ich bin eine
Schwindlerin, aber vielleicht …«
»Setz dich wieder«, flüstert Shreya und ich lasse
mich widerwillig auf meinen Platz fallen.
»O Kugeli, o Kugeli. Was offenbarst du mir
heute?«
Paati Pooja liebkost ihre Kugel mit den
Händen und wirft ihren Kopf erneut in den Nacken. Ich verschränke die Arme vor
die Brust und blicke gelangweilt auf ihre sehnigen Hände. Von mir wird sie
keinen einzigen Rupien bekommen.
»Du bist Priya, Priyanka Sharma«, Paati
Pooja keucht, »doch in dir lebst du nicht allein. Eine traurige Seele genistet
in deiner, verschwieg siebzehn Jahre ihr Sein.«
»Natürlich lebe nur ich in meinem Körper.
Oder meinen Sie, dass die Kolkata Knight Riders der Indian Premier League auch
in mir hausen? Am besten noch ganz Mumbai!« Ich werfe Shreya einen entnervten
Blick zu und schnaube verächtlich.
Paati Pooja fährt aber unbeirrt fort:
»Sie schreit ihren Namen. Ich kann sie
verstehen! Sie schreit: ›Bin Julia Capulet!‹ Mit den tief dunklen Ringen unter
ihren Augen hat sie mich doch glatt erschreckt. Sie wurd‘ gesandt auf Erden, um
ihr allergrößt‘ Wunsch zu erfüllen. Um zusammen mit ihrer besseren Hälfte ein
glückliches Leben zu verbringen.« Paati Pooja reißt ihre milchigen Augen auf
und beugt sich zu mir vor, dass ich ihren heißen, fauligen Atem auf meiner
Stirn spüren kann, als sie spricht: »Der Geist von Julia Capulet versucht durch
dich, Priyanka Sharma, ein glückliches Leben zu führen, wo ihr letztes Leben so
tragisch geendet war. Durch dich«, Paati Pooja reißt ihre Augen nun so weit
auf, dass ich für einen Moment denke, sie fallen heraus, »versucht sie doch
noch ein schönes Ende mit ihrem Romeo zu finden.«
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