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12/21/2012

3. Kapitel

DIE HORROR SCHWESTERN

Die Sonne geht auf und taucht mein Zimmer in rotgoldenes Licht. Ein ziemlich hübscher Anblick, wenn ihr mich fragt. Trotzdem kann in diesem Augenblick überhaupt nichts meine miese Laune heben. Ich habe gefühlte Jahre gebraucht, um einzuschlafen und bin letztendlich doch nur in einen unruhigen Schlaf geglitten. Ich reibe mir die Augen. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich, wie angeschwollen sie sind.
     Ich habe definitiv zu wenig geschlafen.
     Ihr wollt wissen, woher die schwere Schlaflosigkeit kommt? Nicht aus heiterem Himmel, nein. Meinen Schlafmangel verdanke ich ganz allein meiner wundervollen Mutter und ihren abnormalen Rachegelüsten.
     Shreya ist Mitschuld.
Nur, weil sie mich nach der Kirmes unbedingt noch in ein chinesisches Restaurant zerren musste, um Paati Pooja’s Vorhersagen mit mir auszudiskutieren, kam ich vorgestern zu spät zum Abendessen. Ganze drei Minuten … Mutters Hirn tickt aber – wer hätte es denn gedacht? – anders. Diese drei Minuten waren für sie, als hätte ich mich um Stunden verspätet – Tage, nein, zig Lichtjahre. Und das kommt Mutter gerade recht. Ihr hat es geradezu unter den Fingerkuppen gejuckt, mir eine deftige Strafe reinzuwürgen. Aber sogar Mutter weiß, dass sie dafür einen ebenfalls deftigen Grund brauch.
     Ich habe ihr vorgestern einen geliefert, verdammt.
Und wie kann man jemanden wie mich am besten bestrafen? Mit Hausarrest? Nein. Zwar hat Shreya noch heute mit schrecklichen Heulkrämpfen zu kämpfen, wenn sie Hausarrest bekommt, doch mir macht es schon gar nichts mehr aus, so oft habe ich es aufgebrummt bekommen. Außerdem schleiche ich mich sowieso immer wieder raus und meine Eltern sind es leid, mir hinterherzutelefonieren. Mit Putzarbeiten wie zum Beispiel Zimmer aufräumen oder dreckiges Geschirr spülen? Auch nicht. Ich würde dann einfach Rohit und seine Brüder bezahlen, die dann die Aufgaben für mich erledigen.
     Die Drei tun alles für einpaar Rupien.
Man kann mich so richtig foltern, in dem man mich zwingt, wie eine Mahila rumzulaufen. Mit Sari und Bindi und Schminke. Ich erschaudere. Und genau das hat Mutter getan. Heute feiert meine Cousine Aishwarya ihren achtzehnten Geburtstag. Ich kann sie nicht leiden. Ihre hochnäsige Art kann einen in den Wahnsinn treiben. Vor allem, da sie noch nicht einmal einen Grund vorweist, womit sie überhaupt angeben kann. Und als mich Mutter vor einer Woche fragte, ob ich hinwollte, war sie noch damit einverstanden, dass ich etwas Besseres zutun habe. Schließlich würden dort unzüchtige Dinge laufen und es sei besser, dass meine Kinderaugen davon verschont bleiben. Mutters Worte nicht meine … Aber gestern meint sie plötzlich, ich müsse doch dort hin – mit Sari und Bindi und Schminke. Ich könnte kotzen, ehrlich.
Erst dachte ich, dass ich einfach abhauen kann, aber Mutter hat Darshan angeheuert, mich zu begleiten, und auf mich aufzupassen, sodass ich ja nicht wegkomme.
     Habe ich schon mal erwähnt, dass mein Cousin Darshan ein kleiner Arschkriecher ist?
     Das, was Mutter sagt, ist sein Gesetz.
Jemand klopft an die Tür und ich zucke zusammen. Es ist Shrimati Naina.
     »Guten Morgen, Kumari Priya«, sagt sie. »Sie sind schon wach? Für gewöhnlich schlafen Sie noch, um diese Zeit.«
     Schnaufend reiße ich die Bettdecke von meinen Beinen und versuche meine Füße in meine quietschgrünen Badelatschen zu zwängen. Heute benötige ich unglaublich viele Versuche dafür.
     »Ihre Augen, Kumari!«, keucht Shrimati Naina. Sie muss sich an meiner Nussbaumkommode abstützen. »Was haben Sie jetzt schon wieder angestellt, hm?«
     »Ich konnte nicht schlafen«, murmele ich gähnend.
     »Die Singh Schwestern haben nicht alle Zeit der Welt aus Ihnen eine Mahila zu machen, Kumari Priya. Sie kommen in einer halben Stunde. Ich würde mich vorher noch ein wenig frisch machen, wenn ich Sie wäre. Wir wollen ja nicht, dass die Singh Schwestern in Ohnmacht fallen, hm?«
     Mit diesen Worten stampft Shrimati Naina aus meinem Zimmer. Und ich falle aus allen Wolken.
     Die Singh Schwestern! Okay, noch schlimmer kann mein Tag nun wirklich nicht mehr werden. Die Singh Schwestern sind Mutters ferne Verwandten und so unerträglich nervig, dass ich sie insgeheim die Horror Schwestern nenne. Ihr werdet noch verstehen, weshalb.

»Priya!«, zischt Mutter und deutet auf meine Sitzhaltung.
     Ich zucke mit den Achseln. Sie wird mich niemals dazu bekommen, meine Beine übereinanderzuschlagen.
     »Lass sie doch, Rhea«, murmelt Vater, verstummt aber sofort bei dem wütenden Blick, den Mutter ihm zuwirft.
     Dann murmelt sie etwas von Respekt und Göttern. Vater schürzt seine Lippen. Das macht er immer, wenn er große Mühe hatte, sein Lachen zu unterdrücken. Ich grinse.
     Im selben Moment schreitet Babu ins Zimmer.
     »Ihre Gäste sind eingetroffen.«
     »Führen Sie sie hierher ins Wohnzimmer, ja?«, sagt Mutter schnell. Sie erhebt sich und glättet aufgeregt die Falten in ihrem blutroten Sari. Sie trägt heute den Teuersten, den sie zu bieten hat. Vater hat ihn ihr letztes Jahr in Malaysia gekauft. »Keine Dummheiten, Priya.«
     Ich seufze. Amüsiert funkelt mich Vater mit seinen grünen Augen an. Zwei Frauen mittleren Alters watscheln ins Wohnzimmer und blicken umher, als sähen sie zum allerersten Mal Sonnenlicht. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Beide haben ein großes, fleischiges Gesicht mit Wangen, als verstecken sie Mangos darin, und lange schwarze Haare, die ihnen bis zum Po reichen.
     »Aaah. Mh-hm«, macht die eine Horror Schwester. »Hast dich doch für die apricotfarbenen Gardinen entschieden, die ich dir empfohlen habe. Sehr gute Wahl, Rhea.«
    Mutter lacht hysterisch. Als ihr Blick auf mich fällt, bricht sie abrupt ab. Die andere Horror Schwester macht sich währenddessen an unserem Obstteller zu schaffen und schmatzt sich durch grüne Papayas und gelbe Datteln.
      »Nun«, beginnt Mutter, »ihr müsst nach der langen Reise großen Hunger haben.«­­­­­­­­­­ Von Gopal Bhavan nach Bandra sind es gerade mal zehn Minuten mit dem Bus. »Wir haben Essen gemacht.« Shrimati Naina hat das Essen gekocht, korrigiere ich sie in Gedanken. »Folgt mir ins Esszimmer.«
     Glücklich dackeln die Horror Schwestern Mutter hinterher. Vater und ich bleiben sitzen. Wir sehen uns an und müssen in derselben Sekunde lachen.
     »War das deine Idee?«, frage ich grinsend und sehe Vater dabei zu, wie er eine Träne von seinen Augenwinkeln wischt.
     »Meine? Du kennst deine Mutter doch.« Ich nicke stumm. Ich kenne Mutter nur zu gut. »Du wirst es schon überstehen, Kleines«, sagt Vater und erhebt sich. »Versuch heute einfach ein wenig netter zu den Singh Schwestern zu sein. Das besänftigt deine Mutter sicher.«
     Mit einem Augenzwinkern verlässt er das Wohnzimmer.
     Vielleicht hat Vater recht. Womöglich ist das eine von Mutters eigenartigen Prüfungen. Wenn ich sie bestehe – wenn ich also höflich zu den Horror Schwestern bin – muss ich vielleicht gar nicht mehr zu Aishwaryas Party. Okay. Du wirst höflich sein, befehle ich mir. Egal wie nervig sie heute sein werden, du wirst dich zusammenreißen!
     Gut, sie würden mich trotzdem wie eine Mahila kleiden. Aber wie eine Mahila zurechtgemacht zu werden und vor anderen wie eine Mahila rumlaufen zu müssen, sind für mich zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich weiß, dass ich erst dann im Erdboden versinken würde, wenn ich – zurechtgemacht wie eine Puppe – in Aishwaryas Party erscheinen müsste.
     Ich würde sterben, so peinlich wäre das.

Während die eine Horror Schwester mir Beine, Arme und Achselhöhlen mit irgendeinem stinkenden, klebrigen Zeug enthaart, reißt mir die andere Horror Schwester fast die Haare vom Kopf.
     »Wer schön sein will, muss leiden, Liebes«, sängelt die eine Horror Schwester. »Und du willst doch wie eine Mahila ausschauen, nicht Priyanka?«
     Du wolltest höflich sein, ermahne ich mich und beiße mir fast die Zähne aus. Ich werfe Mutter einen schnellen Seitenblick zu. Sie sieht mich prüfend an. Wartet womöglich darauf, dass ich einen Fehler mache; dass ich explodiere. Schweren Herzens schlucke ich das weniger nette Wort hinunter, das ich beiden Horror Schwestern an den Kopf werfen wollte, und lächle. »Aber natürlich, Tantchen«, säusle ich zuckersüß, dabei hätte ich nur zu gerne gekotzt.
     »Sieh dir mal ihre Brauen an, Schwesterherz!«
     »Erinnern mich eher an einen afrikanischen Urwald, wenn du mich fragst«, flüstert die andere Horror Schwester entsetzt. »Her mit der Pinzette. Los, los!«
     Ich hätte am liebsten losgebrüllt, als sie sich mit dem Etwas, das sie eine Pinzette nennt, meinen Augenbrauen nähert.
     »Haben Sie keine Angst, Kumari!«, ruft mir Shrimati Naina ermunternd zu. »Es ist gar nicht so schlimm, wie Sie denken!«
     »AUUU!«, schreie ich und hätte der einen Horror Schwester am liebsten die faltige Visage mit der Faust poliert. Ich habe schon meine Hände zu Fäusten geballt – besinne mich in letzter Sekunde aber wieder. Stöhnend wische ich mir die tränenden Augen. Das hat verdammt wehgetan!
     Und so geht es eine ganze halbe Stunde weiter. Zwar meint Mutter der Schmerz wird mit der Zeit besser werden und ich solle mich nicht so anstellen. Tatsächlich tut es nach dem zwanzigsten Haar genauso weh wie beim Allerersten.
     »Ah«, seufzt Shrimati Naina. »Sehen Sie sich das mal an!« Sie deutet auf mein Gesicht. »Sieht doch viel besser aus, hm?«
     Die eine Horror Schwester dreht meinen Stuhl – immer und immer wieder. Mir war so schlecht, ich hätte mich am liebsten in mein Bett gelegt und eine Siesta gemacht. Aber das, was ich dann zu Gesicht bekomme, verschlägt mir die Sprache. Mein Schwindelgefühl ist abrupt in den Hintergrund gerückt. »W-Was ist d-das?«, stottere ich entsetzt und zeige auf den schwarzen Koffer, den die eine Horror Schwester mit Shrimati Nainas Hilfe auf meinen Schreibtisch hievt.
     »Unser kleines Schminkkästchen.«
     Schminkkästchen ist schlichtweg untertrieben – und klein ist es auch nicht. Es ist eher ein saugroßer, megaabnormaler Schminkkasten, mit dem man mal eben einen Menschen erschlagen kann. Sogar den Hulk könnte man damit lahmlegen, so groß ist das Teil. Und darin befinden sich unendliche Pinsel verschiedener Größen, eine gigantische Palette mit Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, und anderes Schminkzeugs. Sie gleichen Folterinstrumente.
     Mit einem rupft man Wimpern; mit einem anderen kann man Augäpfel rauslöffeln.
     Die wollen mich umbringen.
Es dauert eine ganze Stunde, bis sie fertig mit meinem Make-up sind. Und ich fühle mich, als trüge ich eine Maske. Oder als hätte man mir soeben Botox ins Gesicht gespritzt.
     Nicht – angenehm.
     »Hey!«, meckere ich und schlage der einen Horror Schwester, die versucht hatte mir mein Superman T-Shirt auszuziehen, auf die Hand. »Was soll das?« Höflich sein, Priya. »W-Was macht ihr mit mir?«, füge ich ein wenig netter hinzu.
     »Jetzt kommt der große Augenblick, Priyanka.«
     Ich hebe beide Brauen und neige meinen Kopf nach rechts.
     »Dein Kleid, Kumari Priya!«, seufzt Shrimati Naina und schlägt sich beide Hände auf den Mund. »Kann’s kaum erwarten!«
     »Darf ich vorher wenigstens sehen«, was ihr mit meinem Gesicht angestellt habt?, denke ich, »wie mein Make-up aussieht?«, frage ich.
     Ohne Vorwarnung schubsen mich beide Horror Schwestern vom Stuhl. Beinahe wäre ich auf die Schnauze gefallen, hätte ich mich nicht rechtzeitig mit den Händen abgestützt.
     »Ausziehen!«, rufen die Horror Schwestern im Chor und klatschen – Kindern an ihrem ersten Schultag gleich – aufgeregt in die Hände.
     Shrimati Naina kommt zu mir angerannt. Nach einer Minute stehe ich splitterfasernackt in meinem Zimmer. Hatte ich gemeint, der Tag könne nicht schlimmer werden?
     Großer Irrtum.

Und da stehe ich nun. In einem Sari, geschminkt und mit Bindi. Mein Sari war tiefblau und an meinem Dekolleté schimmern goldene Steinchen. Anders wie bei meinem grünen Sari, auf dem ich versehentlich Chicken Tikka Masala gekleckert habe, kratzt dieser Stoff nicht, sondern schmiegt sich sanft an meine Haut. Erleichtert atme ich den Stress der letzten Tage aus. Das Schlimmste ist vorüber. Ich habe es überstanden. Ich bin für meine Verhältnisse höflich geblieben. Habe meine Zunge im Zaum gehalten. Mutter muss einfach gnädig mit mir sein.
     Ich sehe in die Runde. Acht Augen sind auf mich gerichtet. Ich meine sogar ein kleines Lächeln auf Mutters Lippen erkennen zu können. Sie wird mich ziehen lassen. Ganz sicher.
     »Oh, Kumari«, säuselt Shrimati Naina und wischt sich eine Träne von den Augenwinkeln, »Sie sehen wunderschön aus.«
     Die Horror Schwestern legen mir zum Abschluss goldenen Schmuck an. Sie summen zu einer grauenhaften Melodie, als sie mich zu meinem großen Spiegel schieben. Und dann trifft mich der Schlag. Das Mädchen, das ich darin sehe, ist jemand anderes – aber nicht ich. Ich kenne sie nicht; sie ist mir völlig fremd. Mein Herz pocht mir bis zum Hals, als ich mich langsam dem Spiegel nähere. Ich streiche mir über die Wangen und lasse dabei das fremde Mädchen im Spiegel nicht aus den Augen. Auch ihre grünen Augen bleiben skeptisch auf mich geheftet, während sie meine Bewegung exakt nachahmt.
Die langen, schwarzen Locken des Mädchens fallen über ihre Schultern und bilden eine perfekte Harmonie mit der Farbe ihres Saris. An der Taille sitzt ihr der edle Stoff eng am Körper, wird dann lockerer und streift zuletzt fast den Boden. Ihr Gesicht gleicht beinahe einer Puppe, wäre da nicht die kräftige Nase ... »Was habt ihr mit mir gemacht?«, flüstere ich entsetzt.
     Ich habe gewusst, was auf mich wartet. Aber dieser Anblick ist schlichtweg ein Schock. Nie wollte ich wie die anderen Mahilas sein – wie die ganzen komischen Tussen auf den Straßen, die denken, sie müssen sich für die Männer in Mumbai aufstylen. Nie wollte ich so ein Modeopfer sein – eine Puppe. Und nun reicht ein bisschen Make-up und ein bisschen Stoff, um mich genau zu dem zumachen? Das bin nicht ich. Das ist nicht die Priya, vor der die Männer aus dem Weg springen, aus Angst einen frechen Spruch einstecken zu müssen. Die Priya, die Skateboard fährt und sich mit Jungs versteht, ohne sie daten zu müssen. Die Priya, die sich nichts Sagen lässt.
     Niemand darf mich so sehen. Niemand.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Bevor ich auch nur einen Laut von mir geben kann, öffnet Shrimati Naina die Tür. Es ist Darshan.
     Okay, ich werde heute zur Mörderin.
     »Ich weiß … Bin zu früh dran, aber –« Darshan stockt, als er mich sieht. Ich werde rot wie eine Tomate. »Cousinchen? Bist du es?« Er lacht. »Hätt‘ dich kaum wiedererkannt! Du siehst so … anders aus.«
     »Halt die Klappe, Darshan«, keife ich. »Du bist im Smoking auch keine Augenweide.«
     Darshan verschränkt die Arme vor der Brust.
     »Meinte eigentlich, dass du ganz hübsch aussiehst«, beginnt er, »wenn man das Gesicht außer Acht lässt.«
     »Nun«, sagt Mutter schnell und reibt sich die Hände, bevor ich kontern kann. »Wie ... wäre es mit einem Masala Chai, Schwestern? Nach dieser Höchstleistung kann nur ein guter Tee Körper und Geist beruhigen, nicht?«
     »Mh-hm«, stimmen ihr die Horror Schwestern zu und folgen Shrimati Naina samt Equipment aus meinem Zimmer. Bevor auch Mutter sich ihnen anschließt, packe ich nach ihrem Handgelenk und starre sie hoffnungsvoll an. »Ich war heute höflich, nicht?«
     Mutter hebt eine Braue.
     »Höflicher als sonst«, füge ich schnell hinzu.
     Mutter wirft mir einen skeptischen Blick zu, schweigt aber.
     »Ich muss nicht mehr zu der Geburtstagsparty, oder?«
     Sekunden verstreichen. Dann lacht Mutter plötzlich.
     »Du wirst dahingehen, Priyanka.«
     »A-Aber –«, stottere ich entsetzt.
     »Keine Widerworte.«
     Mutter verlässt mein Zimmer und ich bin erstarrt.
Alles ist umsonst gewesen. Alles. Ich brauchte gar nicht höflich sein. Mutter will mich bestrafen. Und ihre Strafe liegt nun einmal darin, dass ich, wie eine Mahila gekleidet, in Aishwaryas Party aufkreuze.
     Jeder wird mich sehen. Man wird den Respekt vor mir verlieren, den ich mir mühevoll über die Jahre verdient habe. Man wird mich auslachen. Ich, Priyanka Sharma, tanze in einem Sari, mit Bindi und Schminke an, obwohl ich damals noch große Töne gespukt habe, keine zehn Pferde würden mich dazu bekommen.
     »Ist doch kein Weltuntergang«, sagt Darshan ohne den Blick von meinem alten Gameboy abzuwenden. »Ein bisschen feiern, ein bisschen trinken … Weiß gar nicht, was du hast, Cousinchen.«
     Erst werfe ich ihm einen überraschten Blick zu. Habe ganz vergessen, dass er sich immer noch in meinem Zimmer aufhält. Dann hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen. Im selben Augenblick trudelt eine brillante Idee in meinen Kopf. »Hey, Darshan?«
     »Hm?«, macht er, ohne vom Gameboy aufzuschauen.
     »Sei doch mal ehrlich«, beginne ich. »Du hast auch nicht wirklich Bock auf die Party, nicht? Wie wär’s, wenn wir beide uns einfach einen schönen Tag machen? Im Candies oder im Mc Donald’s vielleicht? Ich lad dich ein! Und wenn Mutter fragt, sagen wir ihr einfach, dass wir von Aishwaryas Party kommen.« Hoffnungsvoll reiße ich die Augen auf. Er scheint darüber nachzudenken.
     Darshan wirft den Gameboy auf mein Bett.
     »Klingt nicht schlecht«, ich bin kurz davor Freudensprünge zu machen, »aber das Angebot deiner Mutter ist verlockender.«
     Und ein zweites Mal falle ich aus allen Wolken. »Wie viel gibt sie dir?«
     »Unbezahlbar für dich«, wispert er nur.
     »Darshan, sag schon!«
     Er zuckt mit den Achseln und grinst.
     »Außerdem würde ich nur zu gerne sehen, wie andere auf dich reagieren werden. Priyanka Sharma sieht man vielleicht kein zweites Mal im Sari.« Er lacht laut. »Wenn ich du wäre, würde ich lieber nicht darüber nachdenken, abzuhauen. Deine Mutter hat noch weit mehr Leute angeheuert, die dich observieren sollen. Bleib also einfach an meiner Seite, okay Cousinchen?«

12/15/2012

2. Kapitel

ZURÜCK IN INDIEN

Herzallerliebste Summer,
Du glaubst nicht, wie sehr Du mir fehlst. Jede Blume, sei es die Schönste in ganz Indien, duftet nicht halb so gut wie Du. Die Sonne gibt mir nicht annähernd die Geborgenheit, die ich an jedem Tag bei Dir fand. Und seitdem ich das allererste Mal in den Genuss Deiner strahlend blauen Augen gekommen bin, traf ich hier in Indien auf nichts Ebenbürtiges. Du bleibst in meinem Herzen; Du bist mein Herz. Auch die zehn Tausend Kilometer Entfernung, die uns körperlich voneinander trennen, können niemals unsere emotionale Nähe brechen. Nimm die Gram von Deinem Herzen und verzeih mir. Du weißt, dass ich England nicht freiwillig verlassen habe. Zwar haben wir uns geschworen, den anderen niemals in Stich zu lassen, aber ich habe Dir erklärt, wie meine derzeitige Situation ist. Ich werde so schnell wie möglich versuchen, wieder nach England zurückzukehren. Antworte mir, bitte.
Dein Raj

»Ist das dein Ernst, großer Bruder?«, brüllt Yash. Er überfliegt meinen Brief nun schon zum dritten Mal und schüttelt entsetzt den Kopf. »Hat dich das Auslandsjahr in England zum Weichei mutieren lassen? Was hat man dir gegeben? Wabbligen Wackelpudding oder rosa Zuckerwatte? Scheiße man!« Yash fährt sich aufgeregt durch das dichte schwarze Haar. »Weißt du, was wir am besten machen?«
     Ich wälze mich in meinem Bett und gebe keinen Laut von mir.
     »Ich zerreiße den Scheiß jetzt.«
     »Nein!«, murmele ich, doch zu spät. Mein kleiner Bruder hat meinen Brief bereits entzweigerissen. Ich springe aus meinem Bett, packe ihn am Kragen und hebe die Faust, mit der Absicht ihm ein hübsches Veilchen ins Gesicht zu pflanzen. »Was glaubst du, wer du bist, hm?«
     Yash hält seine Augen fest geschlossen. Wie gerne ich ihm diesen Schlag verpassen wollte. Dieser Faulpelz, der niemals auch nur einen Finger gekrümmt und immer alles von Vater und Mutter in den Hintern geschoben bekommen hat, weiß nicht, wie lange ich an dem Brief saß. Zu gerne hätte ich ihm die Faust verpasst, um klarzustellen, wer von uns beiden der ältere Bruder ist. Aber dann meldet sich wie immer mein Gewissen und ich lasse meine Hand sinken. Yash klatscht.
     »Das ist doch schon mal ein Fortschritt! Ich habe dich aus dem Bett gekriegt.«
     »Glückwunsch«, murmele ich brummig. Tatsächlich bin ich verblüfft, dass es Yash letztendlich doch gelungen ist, mich aus dem Bett zu bekommen. Seit meiner Landung in Mumbai vor einer Woche habe ich mich in meinem Bett verschanzt. Ich wollte nicht zurück nach Indien, sondern in London bei meiner Summer bleiben. Nur waren meine Eltern strikt dagegen gewesen, dass ich noch länger in England blieb. Das Land habe meine Sinne verwirrt, meinten sie. Was für ein Stuss. Es ist eher das allerbeste Jahr meines gesamten Lebens gewesen. Die Liebe ist in meinem Leben getreten. Sie ist das Allerschönste, was mir je passieren konnte. Und nun werde ich mit aller Gewalt von ihr getrennt.
     »Äh, könntest du meinen Kragen in Frieden lassen. Gerade er kann gar nichts dafür, dass du dich so miserabel fühlst.« Ich werfe Yash einen niederschmetternden Blick zu. »Wär außerdem nicht schlecht, wenn du dir mal die Zähne putzten würdest. Uääh ist doch kaum auszuhalten!« Ich versuche, ihn am Hinterkopf zu erwischen. Er ist schneller, duckt sich und eilt zur Tür. »Es gibt Paneer Bhurji zum Frühstück. Ich würde mich beeilen, wenn ich du wäre.«

Ich knöpfe mein weißes Hemd zu und schnüffle an dem Shirt, das eine ganze Woche wie eine zweite Haut an mir geklebt hat. Und scheiße man! Yash hat verdammt recht gehabt. Ich muss die ganze Zeit über wie ein wandelnder Stinkstiefel gerochen haben. Angewidert werfe ich das muffige Shirt in eine Ecke und ziehe die schweren Rollläden hoch, die mir an jedem helllichten Tag, Dunkelheit beschert haben. Augenblicklich durchfluten Sonnenstrahlen mein Zimmer und vertreiben die Finsternis.
     »Raj!«, höre ich Yash von unten schreien.
     Ich eile zur Tür, mache aber auf dem Absatz kehrt und betrachte mein Zimmer. Mein Tisch, auf dem Dutzende Zeichnungen von Summer weilen, die bei jedem Windstoß aufgewirbelt wurden; mein gewaltiges Bett, das so unordentlich ist, als hätte ich über Nacht versucht, es auseinanderzunehmen. Nur Palash, unser Diener, wagt es, mein Bett zu zähmen. Letztens waren meiner kleinen Schwester Anjali die Sicherungen durchgebrannt, als sie versucht hatte, mein Bett zu beziehen. Ich hatte sie ja gewarnt …
     »Raj!«, grölt es von unten, aber ich antworte nicht.
     Ich starre auf das Poster der Kolkata Knight Riders über meinem Bett. Das Klebeband hält nur noch an zwei Enden, sodass das Poster bei jedem Windzug zu tanzen beginnt. Seit über drei Jahren sind die Kolkata Knight Riders mein Lieblingscricketteam. Und noch immer würde ich alles dafür tun, den Inhaber Sharukh Khan höchstpersönlich zu treffen. Seien wir doch mal ehrlich. Dieser Mann hat dieses besondere Flair, das es einen unmöglich macht, ihn zu hassen, nicht?
     Verdammt. Ich bin wirklich wieder zurück.
Es fühlt sich für einen Moment sogar so an, als sei ich nie wirklich weg gewesen. Doch sobald ich an Summer Hall denke und ein unsäglicher Schmerz in mein Herz fährt, weiß ich, dass meine Zeit in London keine bloße Illusion gewesen ist.
     »RAJ!«
     Ich zucke zusammen und werfe der Tür einen grimmigen Seitenblick zu. »Ich komm ja schon!« Langsam trabe ich die Treppenstufen hinab. Im Empfangssaal angelangt, läuft mir Palash entgegen. Seitdem ich denken kann, arbeitet er im Dienste der Kapurs.
     »Ah, Kumar (die Bezeichnung eines jungen Herren) Raj! Seit wann sind Sie wieder zurück?«
     »Palash, altes Haus«, sage ich und zerzause ihm die nach hinten gekämmten Haare, »ich bin schon seit einer Woche wieder in Bandra. Gerade du müsstest das doch wissen.«
     »Nein, Kumar. Sie verstehen mich falsch.« Palash glättet die Falten in seinem weißen Kurta (ein einfaches, traditionelles Kleidungsstück aus Baumwolle für Männer) und schmunzelt. »Ich meine, seit wann Sie wieder bei Bewusstsein sind.«
     »Ha, ha. Sehr witzig«, sage ich und klopfe Palash unsanft die Schultern. »Es gibt Paneer Bhurji zum Frühstück. Ich beeil mich besser, sonst bleibt mir bei dem Nimmersatt Yash nichts mehr übrig.« Als ich schon einige Schritte in Richtung Esszimmer gelaufen bin, murmelt Palash:
     »Blass geworden ist der Kumar ja schon …«
     »Das habe ich gehört!«, rufe ich und werfe Palash einen amüsierten Blick zu.
An dem schweren Eichentisch im Esszimmer sitzen bereits Mutter, Vater, Anjali und Yash, die sofort verstummen, als ich den Raum betrete. Vater wischt sich mit einer Serviette den Mund und lächelt.
     »Mein Sohn! Dass ich dich noch in diesem Monat wieder zu Gesicht bekomme, hätte ich nicht gedacht.«
     »In diesem Jahr eher …«, murmelt Yash. Sofort verpasst Anjali ihm einen harten Schlag auf den Nacken. »Aua, Jali! Das hat wehgetan! Du kannst mich nicht einfach so schlagen … Ich bin älter als du!«
     »Diese paar Minuten«, murmelt Anjali und schlürft ihr Masala Chai (ein indischer Tee), sichtlich unbeeindruckt von Yashs Gemecker.
     Yash und Anjali sind Zwillinge, müsst ihr wissen.
     Beide haben am selben Tag Geburtstag, dennoch erblickte Yash vor siebzehn Jahren zehn Minuten früher die Welt, was Anjali aber noch nie davon abgebracht hat, ihn herumzukommandieren, als sei sie die Ältere von beiden.
     »Setz dich doch, Raj!«, grinst Anjali. »Hab dir Paneer Bhurji auf dem Teller serviert, bevor ein gewisses Großmaul, dessen Namen ich nicht nennen möchte, alles verschlingen konnte.«
     »Anjali!«, sagt Mutter mahnend und streicht mir über den Kopf, als ich mich neben ihr niederlasse. »Schön dich wieder hier zu haben, mein Herz.«
     »Ihr müsst euch bei mir bedanken!«, ruft Yash mit vollem Mund. »Ich hätte bei dem Versuch, ihm aus dem Bett zu kriegen, fast Schläge kassiert!«
     »Die brauchst du auch …«, murmelt Anjali.
     Yash wirft ihr einen niederschmetternden Blick zu und zieht eine Grimasse. Zum ersten Mal bemerke ich seine blutverkrusteten Lippen.
     Anjali folgt meinem Blick und rollt die Augen.
     »Dreimal darfst du raten.«
     »Yash, sag mir nicht, dass es das ist, was ich denke.« Yash meidet meinen Blick und starrt reumütig auf seinen leeren Teller. »YASH!«
     »Mann, die haben zuerst angefangen, okay! Wir schlendern seelenruhig in die Kirmes, wollten uns paar Puris gönnen, und wer macht uns dumm von der Seite an? Darshan und seine bedepperte Crew! Die haben unsere Familie beleidigt, Raj! Das konnten wir doch nicht einfach auf uns sitzen lassen.«
     »Ihr hättet sie ignorieren sollen!«, entgegne ich. »Du hast mir vor meiner Abreise versprochen, keinen Scheiß zu bauen.«
     Im selben Moment schlendert Sunny in das Esszimmer.
     »Namaste Shrimati Kapur. Namaste Shriman Kapur.« Er verneigt sich, und als unsere Blicke sich treffen, hält er für einen kurzen Moment inne. »Hattest du vorgehabt das ganze Jahr durchzupennen, Mann? Ich hab mir Sorgen gemacht!« Er umarmt mich und lässt sich auf den freien Stuhl neben mich fallen. Sunny – bei den Professoren bekannt unter dem Namen Omkar Kahn – und ich kennen uns seit unserer Geburt und sind seither beste Freunde – Brüder. Ein violetter Schatten prangt unter Sunny’s rechtem Auge. »Du auch? Sunny, du?«, frage ich verblüfft. »Du hast mitgeprügelt?«
     »Isst du das noch?«, fragt Sunny. Ohne auf meine Antwort zu warten, macht er sich an meinem Teller zu schaffen. »Ich wollte die beiden Streithähne auseinanderbringen. Und wer verpasst mir ‘nen Faustschlag, hm?«
     »Tschuldigung, Alter«, murmelt Yash. »Der Schlag war eigentlich für einen von Darshan’s Leibgarde bestimmt.«
     »Hoffe das war der einzige Schlag, der danebenging, Junge«, grinst Vater und mir klappt der Unterkiefer herunter.
     »Ist das dein Ernst, Vater? Merkst du nicht wie … wie kindisch der ganze Streit zwischen den Kapurs und den Sharmas ist? Shriman Kapur und du könntet diesen Streit ein für alle Mal aus der Welt schaffen, in dem ihr euch einfach mal hinsetzt und redet. Heute waren’s blutige Lippen und blaue Augen. Morgen sind’s vielleicht die ersten Toten.« Ich erhob mich. Mutter wirft mir einen flehenden Blick zu. Ihr glaubt nicht, wie oft ich diese Diskussion mit Vater hatte.
     Immer endet sie im Streit.
Seine Argumente sind unter anderem, dass er es einfach nicht ertragen kann, dass die Sharmas sein Ansehen zerstört haben … »Ich habe keinen Hunger mehr«, sage ich und hoffe, dass mein Bauch die Lüge nicht enttarnt, in dem er jetzt knurrt. Ich stürme aus dem Esszimmer. Und gerade als ich die Treppen hochpoltern will, höre ich einen Knall hinter mir.
     Sunny ist mir gefolgt und auf dem glatten Marmorboden im Empfangssaal ausgerutscht. Ich muss lachen.
     »Raj, Mann«, stöhnt Sunny. »Sei mal ein guter Freund und hilf mir hoch.«
     »Mal?«, frage ich entgeistert. »Willst du damit behaupten, ich sei sonst kein guter Freund, oder was?«
     »Naja, naja …«
     Ich helfe Sunny hoch. Er klopft sich den Hintern und verschränkt die Arme vor der Brust.
     »Und …? Morgen Abend schon was vor?«, fragt er. Ich weiß, dass er die Frage so beiläufig wie nur möglich klingen lassen will. Wie immer verrät sein zappelnder Fuß seine Nervosität. Sunny kann mich nicht täuschen. Dafür kenne ich ihn zu lange.
      »Nicht, dass ich wüsste«, murmele ich skeptisch.
      »Super …«, sagt Sunny heiter. »Dann gehen wir am besten in dein Zimmer. Palash’s Ohren können sehr … empfindlich sein. Wenn du verstehst, was ich meine.«
     Mit einem Augenzwinkern zieht er mich die Treppen hoch.    
         
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und beobachte Sunny, wie er mit größter Achtsamkeit die Tür schließt, einige Sekunden an ihr horcht und sich dann neben mich gesellt.
     Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, bevor Sunny sich endlich aus seiner Starre löst und sich eine dunkle Strähne von der Nase pustet.
     »Erinnerst du dich noch an die fette Arya, die eine Klasse unter uns war?«, fragt Sunny. »Sie hatte es ein ganzes Jahr auf mich abgesehen.« Er erschaudert, doch seine aufmerksamen Augen bleiben an mir heften.
     »Aishwarya Sharma?«, frage ich und muss ein Grinsen unterdrücken. »Es hatte sie voll erwischt, Mann. Stand jeden verdammten Tag an deinem Schließfach und wollte dir etwas Spendieren. Erst ‘nen Riegel …«
     »Dann ein Happy Meal …«, seufzt Sunny.
     Ich lache und Sunny presst sich mein Kissen ins Gesicht. Langsam lässt er das Kissen wieder sinken und funkelt mich an.
     »Sei du mal ganz leise … Habe nämlich mitbekommen, dass du in England ‘ne Neue am Start gehabt hast. Ich dachte, ich bin dein bester Freund? Warum erzählst du mir so etwas nicht?«
     »Tschuldigung, Mann«, murmele ich reumütig. »Bin nicht wirklich dazu gekommen.«
    Sunny verschränkt die Arme vor der Brust und lächelt.
     »Fang an, Mann. Wer ist die Unglückliche?«
     Ich reiße ihm das Kissen aus der Hand und werfe ihn in sein feixendes Gesicht. »Sie heißt Summer – Summer Hall.«
     »Summer Hall? Du hast dir eine Europäerin geangelt?«, fragt Sunny verblüfft. »Eine Europäerin?«
     Ich ziehe eine Grimasse. »Was dachtest du denn?«
     »Keine Ahnung, Mann … Kann mich dich irgendwie gar nicht mit ‘ner Weißen vorstellen … Wie sieht sie denn aus?«
     »Sie hat das schönste Gesicht der Welt. So ein Gesicht habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Augen blauer als der Himmel. Langes goldenes Haar, das in der Sonne einen leichten Rotstich hat … Sommersprossen, Grübchen.«
     »Oh … Eine Honigbiene also.«
     »Was?«, frage ich, verwirrt, ob es eben ein Kompliment gewesen ist oder ich Sunny jetzt eine Faust verpassen soll, weil er meine Summer beleidigt hat.
     »Ich stell sie mir wie eine Honigbiene vor. Eine süße Maus halt …« Ich entspanne mich wieder. »Und wie habt ihr euch kennengelernt?«
     Ich reibe mir den Nacken – innerlich hätte ich am liebsten aufgeschrien. Ihren Namen laut auszusprechen tut fast noch mehr weh, als ihn nur im Kopf zu hören. Mir alte Erinnerungsfetzen wieder vor Augen zu holen, die ich seit Tagen verdrängt habe ... schlichtweg unerträglich.
Summer …Unwillkürlich reisen meine Gedanken in die Vergangenheit. Summer und ich picknicken mit einigen Freunden im Hyde Park. Es ist ein schöner Tag – ein ungewöhnlich sonniger Tag für London. Summer kann gar nicht genug von der Sonne kriegen. Ihr ganzes Gesicht ist übersät mit Sommersprossen. Sie ist wunderschön und sieht so erholt aus wie lange nicht mehr. Die Krankheit ihrer Mutter hat ihr zu schaffen gemacht. Neben dem Job in der Praxis muss sie sich um ihre Mutter kümmern. Und nie hat sie sich beschwert. Nie es auch nur in Erwägung gezogen ihre Mutter in ein Altersheim abzuschieben, so wie es ihre fünf älteren Geschwister geplant haben. Meine Summer …
     »Lass mich raten, Mann! Lass mich raten!«, ruft Sunny aufgeregt und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ihr habt euch in ‘nem Club kennengelernt, nicht?«
     Typisch Sunny. Ich schüttle den Kopf.
     »In einer Bar!«
     »Auf einer Bank«, sage ich.
     »Auf einer Bank, wo man sich hinsetzt?« Sunny verzieht das Gesicht und ich muss lachen. »Nein, Mann. Du meinst bestimmt in einer Bank, wo das Cash schmort, nicht? Sag mir bitte, dass du eine Cash Money Bank meinst.«
     »Nein, auf einer Bank in der Nähe der Waterloo-Station, Sunny. Dort habe ich sie zum allerersten Mal getroffen. Sie hatte geweint …« Ich schlucke den Klumpen in meinem Hals runter. Ihr damaliger Anblick verschlägt mir noch heute die Sprache. Ihre Tränen waren das Traurigste, was ich je gesehen habe. »An diesem Tag hatte sie von Ärzten erfahren, dass ihre Mutter an Multiple Sklerose leidet.«
     »Scheiße, Mann … Was ist Multi Plastikrose?«
     »Multiple Sklerose, Sunny!«, rufe ich aufgebracht. »Sie ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Gesichtsfeldausfälle oder Sprachstörungen können eine Folge sein.«
     »Krass, Mann. Und dann habt ihr beide einfach mir nichts dir nichts Nummern ausgetauscht und angefangen zu daten?«
     »Das Schicksal meinte es mal gut mit mir … Wir begannen zufällig in derselben Praxis ein Praktikum.«
     Sunny klopft mir unsanft die Schultern.
     »Das Schicksal meint es immer gut mit dir, Kumpel.«
     »Und was war jetzt mit Aishwarya?«, frage ich schnell, um vom Thema Summer abzulenken. Ich weiß nicht, wie lange ich noch stark bleibe ... Das Glück will ich lieber nicht herausfordern.
     »Sie schmeißt morgen zu ihrem achtzehnten Geburtstag eine fette Party.«
     »Sag bloß, du willst dahin, Sunny … Außerdem ist sie eine Sharma. Wenn ihre ganzen Cousins und Brüder uns sehen, sind wir tot – sogar schlimmer als das.«

     »Es ist ein Maskenball, Raj! Die werden uns schon nicht erkennen. Ich besorge uns einfach ‘n paar Halbmasken in Bandra und gut ist. Komm schon, Mann!«, nörgelt Sunny und packt nach meiner Schulter. »Weißt du, wen sie alles eingeladen hat? Die Crème de la Crème der Musikwelt … Gayatri Iyer … Nihira Joshi.«

     »Du stehst doch gar nicht auf die Musik, Sunny«, sage ich mit einem Augenzwinkern.

     »Ja gut … Zufällig sind sie auch meine Traumfrauen …« Mit einem Ruck erhebt sich Sunny und zeigt auf mich, als sei ich ein Schwerverbrecher. »Wir gehen dahin, Mann!«

1. Kapitel

IN DER KIRMES


»Priyanka Sharma!« Mutter schreit – schon wieder. Das macht sie oft, müsst ihr wissen. Alle Frauen in der Familie meiner Mutter sind im stolzen Besitz dieses lauten, nervtötenden Organs, das außerdem dafür verantwortlich ist, dass sie bei allem und jedem schreien müssen. Fragt mich nicht warum. Habe selbst keinen Schimmer ... Ihr wisst nicht wie froh ich bin, dass ich mehr nach Vater gehe. Und trotzdem konnte es sich Mutter einfach nicht verkneifen, mir doch noch ein Erbe aufzudrücken, das keinen Zweifel daran ließ, wer die Tochter von Rhea Sharma ist. Und dann noch etwas, dass sich nicht kaschieren lässt, weil es mitten im Gesicht sitzt – ihre berühmte Höckernase.
     »Priyanka Sharma!« Mutter keucht die Treppenstufen hinab. Ihr weißer Sari schlägt um ihre Knöchel. Ich weiß, dass es gleich gewaltigen Ärger geben wird. Wenn Mutter mich bei meinem vollen Namen ruft, kann es nichts Gutes heißen. Und als würde Mutter meinen Gedanken bestätigen wollen, murmelt sie: »Na warte, du freches Gör, du. Na warte.«
     »Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?«
     Am Treppenabsatz angelangt, hält Mutter schnaufend inne. Dann wandert ihr Blick von meinem Haaransatz zu meinen Zehenspitzen. Verblüfft schaue ich zu mir runter. Vielleicht geht sie ja so ab, weil ich irgendeinen Fleck auf meinem T-Shirt habe. Mutter hasst das. Ihr wisst nicht, was für eine Standpauke ich mir letztens anhören musste, weil ich meinen grünen Sari aus Versehen mit Chicken Tikka Masala vollgekleckert hatte. Mir war es Recht.
     Ich habe diesen kratzigen Fummel gehasst.
     »Du willst mir nicht ernsthaft so«, mit dem Kinn zeigt sie auf meine Klamotten und verzieht das Gesicht, als habe sie gerade in einen von Vaters Schuhe gerochen, »aus dem Haus gehen, hm?«
    Ich starre erneut zu mir runter und werfe Mutter einen entnervten Blick zu. Ich trage ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift ›Rock sells‹, meine Lieblingsjeans, die seit meinem ersten Skateboard Training bei Rohit am linken Knie zerrissen ist und meine schwarzen Sneakers. Zugegeben, die waren nicht mehr die Neusten. »Ne, weißt du? Ich wollte mir vor der Tür die Klamotten vom Leib reißen und nackt durch die Straßen von Mumbai laufen.«
     »Die wird mir frech. Frech wird die mir«, murmelt Mutter, als spräche sie gerade zu jemand Bestimmten. »Das erzähle ich deinem Vater!«
     Ich zucke mit den Achseln. Vater würde mir wie immer Hausarrest aufdrücken, um Mutter ein wenig zu besänftigen. Und ich würde mich halt wieder rausschleichen müssen.
     So einfach ist das.
     »Du bist eine Mahila (Bezeichnung einer Dame), Priya. Kein dreckiger Slumdog aus Dharavi. Wie oft muss ich dir das noch erklären?«
     »Slumdogs können sich keine Converse Sneakers leisten, Mutter«, sage ich grinsend. Doch das Lachen vergeht mir schnell wieder, als Mutter mit der blanken Hand gegen meinen Oberarm schlägt. »Au!«
     »Zieh das aus, Priya!«, schreit Mutter. »Und deine Haare! Hast du denn nie gelernt, dass man sich auch mal die Haare kämmen muss? Eine Mahila …!«
     Ich unterdrücke ein breites Grinsen und täusche ein Hüsteln vor. »Hast es mir nie beigebracht.«
     »Rahul! RAHUL!«, ruft Mutter und blickt hilflos in die Runde. Ich weiß es aber besser: Vater hat seit über einer Stunde das Haus verlassen. Dieses Mal können sie mich nicht im Doppelpack fertigmachen. »O steht mir bei, ihr Götter! Welch freches Gör habt ihr in meinem Leib heranwachsen lassen?«
     Mutter murmelt vor sich hin und streicht über ihren roten Bindi (ein Punkt, der mitten auf der Stirn aufgemalt wird, wo das energetische dritte Auge vermutet wird). Das macht sie immer, wenn sie sich gerade den Kopf darüber zermattert, welche Strafe sie mir dieses Mal auferlegen kann. Ich seufze innerlich und verschränke die Arme vor der Brust.
     »Mach schnell, Mutter. Shreya wartet.«
     Mutter formt ihre Augen zu Schlitzen und hebt ihre Hand, mit der Absicht mir einen weiteren Schlag zu verpassen, doch das Klingeln des Telefons lässt sie innehalten. Es klingelt und klingelt wieder. Unschlüssig, ob sie in das Wohnzimmer rennen oder mir doch noch den zweiten Schlag verpassen soll, verzieht sie kurz den Mund. Dann eilt sie mit einer Geschwindigkeit, die ich bei ihr nie für möglich gehalten habe, in das Wohnzimmer. Okay, das ist nicht ganz richtig. An dem Tag, als sie mir mit einem Stock durch das Haus gejagt ist, scheint sie noch einen Ticken schneller gewesen zu sein. Ihr wisst nicht, wie schnell Mutter rennen kann, wenn sie erst einmal in Rage ist.
     »Namaste, Rhea Sharma am Apparat. Mit wem spreche ich da? O Tanya! Herzallerliebste Tanya! Du weißt nicht, wer mich wieder am Rande meiner Nerven bringt …«
     Ich nutze diesen Augenblick und schleiche mich aus dem Haus. Zwar weiß ich, dass es am Abend ein Donnerwetter geben wird, schlimmer sogar, aber das ist mir egal. Ich habe keine Lust die Lästereien von Mutter und ihrer Busenfreundin ertragen zu müssen, die natürlich meiner Wenigkeit gelten.
Ich renne die Treppenstufen hinab und eile durch unseren Vorgarten. Der Rasen ist feinsäuberlich geschnitten und auf ihm weilen Statuen indischer Götter. Ich blicke zu meiner Rechten und Vishnu, das Gleichgewicht zwischen Brahma, dem Schöpfer, und Shiva, dem Zerstörer, lächelt mir entgegen. Ihr müsst mal unseren Hauptgarten gesehen haben. In ganz Bandra ist bekannt, dass die Gärten der Sharmas besonders ansehnlich sind. Manchmal kommen sogar weiße Touristen, um unseren Vorgarten abzulichten. Babu, unser Diener, muss sie dann jedes Mal verjagen. Mutter liebt diesen Rummel um ihre Gärten natürlich, obwohl sie von außen hin jedes Mal vorgibt, ihr würde das Ganze schrecklich auf die Nerven gehen.
Am Eingang bin ich fast mit Shrimati (Indisches Wort für die [respektvolle] Bezeichnung einer Frau) Naina zusammengestoßen. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren im Dienste der Sharmas und hatte mich großgezogen, während Mutter und Vater ihren Geschäften nachgingen.
Shrimati Naina hat sich mit ihrem Sari an einem Cocastrauch verheddert und nun große Mühe gehabt, sich wieder zu befreien. Ich helfe ihr.
     »Kumari Priya«, seufzt sie und fasst sich ans Herz.
     »Lassen Sie das von wegen Kumari, Shrimati Naina«, meckere ich, als es mir endlich gelungen ist, das grüne Stück Stoff vom Strauch zu lösen. Kumari ist die Bezeichnung einer Mahila in Indien; einer Lady.
     »Kumari Priya«, sagt Shrimati Naina erneut und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich rolle mit den Augen. Sie wird es wohl nie lernen. »Sie haben mir einen großen Schrecken eingejagt. Warum haben Sie es so eilig, dass sie es sogar in Kauf nehmen, ihre Mitmenschen zu gefährden, hm?«
     Ich schweige und blicke auf den Boden. Vor ihr ist es mir peinlich, zu gestehen, dass ich mich wieder aus dem Haus stehlen will. Aber sie scheint anhand meines schuldbewussten Gesichtsausdruck zu ahnen, was ich vorhabe.
     »Sie schleichen sich aus dem Haus, Kumari«, stellt Shrimati Naina kopfschüttelnd fest. »Ihre Eltern werden sehr wütend werden.«
     »Das ist mir egal«, sage ich trotzig und verschränke die Arme vor die Brust. »Mutter regt sich auf, weil ich nicht wie eine Mahila rumlaufe. Am liebsten hätte sie mich mit Sari und Bindi.«
     Shrimati Naina schürzt die dünnen, faltigen Lippen.
     »Sie müssen ihre Mutter verstehen, Kumari Priya«, säuselt sie dann. »Sie möchte nur, dass Sie mit ihrem rebellischen Auftreten nicht auch noch ihre potenziellen Interessenten verjagen.« Jedes Mal, wenn Shrimati Naina dieses Thema anspricht, könnte ich kotzen. »Schließlich wollen wir alle, dass unsere Kumari einen hübschen Edelmann abkriegt, nicht?« Sie zwinkert.
     Ich atme tief ein und unterdrücke einen Seufzer. »Tut mir leid, aber ich muss los. Shreya wartet schon. Wenn Mutter fragt, ich bin auf der Kirmes.«
     Ich eile durch das silberne Eingangstor. Hinter mir höre ich Shrimati Naina noch »Komm nicht zu spät, Kumari! Heute gibt es Roghan Josh (indisches Lammgericht) zum Abend!« rufen, bevor das Tor mit einem lauten Bumm in das Schloss fällt.

Mittags ist es auf den Straßen von Bandra, einem vornehmen Stadtteil Mumbais, so laut wie in einem Stadion in der WM-Saison. In einer Ecke streitet man sich, weil ein Autofahrer einem Fußgänger um ein Haar über die Füße gefahren ist; denselben Moment nutzt ein kleiner Junge, um einer alten Dame das Portemonnaie aus ihrer braunen Krokotasche zu fischen; und in einer anderen Ecke lässt ein Mann üble Flüche fallen, nachdem er einen fetten Kratzer in seinem roten Porsche entdeckt hat.
Die Luft in Bandra ist staubtrocken. Die Sonne steht im Zenit und brennt mir auf die schwarzen Haare. Es ist so heiß, dass ich es einen Augenblick lang bereue, das Haus nicht tatsächlich splitterfasernackt verlassen zu haben.
Vor mir sehe ich den Bus, der zur Kirmes fährt. Mein Magen dreht sich zweimal, als ich die Menge sehe, die sich in ihn hineinzwängt. Ich atme tief ein und kämpfe mir einen Weg zum Bus, bevor dieser ohne mich wegfahren konnte.
     Im Bus stinkt es nach einer Mischung von Schweiß und Fürze, die wahrscheinlich vom dicken Shriman (Indisches Wort für die [respektvolle] Bezeichnung eines Mannes) kommen. Er ist so widerlich, ich könnte kotzen. Das Allerschlimmste ist aber, dass ich direkt neben ihm stehe. Vor uns kichern eine Gruppe von Mädchen in meinem Alter, die die Definition von dem verkörpern, was Mutter unter Mahila versteht. Sie tragen allesamt bauchfreie Saris, Bindis und ihre langen Haare zu einem frisierten Dutt. Der dicke Shriman gafft sie an, als seien sie eine übergroße Portion Chicken Tikka Masala.
     »Haltestelle Santacruz!«, ruft der Fahrer und erlöst mich von dem perversen Shriman. Ich springe aus dem Bus und sehe mich nach Shreya um. Ich sehe sie auf einer Mauer sitzen und eile ihr entgegen. Shreya Chopra ist wie ich: Siebzehn Jahre alt und Schülerin an der St. Theresa‘s High School. Außerdem trägt sie auch lieber bequeme Jeanshosen und T-Shirts statt Saris. Ein dicker goldener Klunker schmückt ihre Nase. Das Piercing hat sie sich vor vier Wochen stechen lassen, um von der Breite ihrer Nase abzulenken, obwohl ihre Eltern strikt dagegen gewesen waren. Sie bekam Hausarrest und wir konnten uns einen ganzen Monat nur noch in der Schule treffen.
     »Hey Shreya!«, rufe ich.
     Shreya fährt sich durch das schulterlange, blondierte Haar und grinst.
     »Schon mal auf die Uhr geschaut, Priya?«
     »Du weißt doch, wie Mutter ist ...«
     Shreya springt von der Mauer und klopft sich den Dreck vom Hintern. Zusammen machen wir uns auf den Weg auf die Kirmes.

»… meinte Akshita. Die sollen dort richtig hübsch sein, Priya! Mit tiefdunklen Augen und Armen so muskulös und stark, die könnten es mit zehntausend Mann aufnehmen, wenn es sein müsste.« Shreya seufzt lang anhaltend und ich rolle die Augen.
     Shreya ist nicht ganz so wie ich. In einem Punkt unterscheiden wir uns drastisch voneinander. Sie kann gar nicht aufhören von hübschen Jungs zu reden, während ich mich überhaupt nicht für das andere Geschlecht interessiere. Shrimati Naina findet das äußerst bedenklich, aber Mutter meint ich sei lediglich ein Spätzünder.
     »Irgendwann, wenn der Prinz in ihrem Leben reitet, wird unsere Priya gar nicht anders können, als sich in ihn zu verlieben«, hatte Mutter einmal gesagt. Und ich hatte große Mühe gehabt, mein Mittagessen bei mir zu behalten.
     »Die Jungs in der Kirmes sind ganz anders als die schlaksigen, großmäuligen Jungs aus der St. Theresa’s High School.« Shreya packt nach meiner Hand. »Los, beeilen wir uns! Sonst bleibt uns bei den ganzen Mahilas keiner mehr übrig!«
    Sie zieht mich durch Menschenmengen. Hier und da ernten wir Schläge von empörten Damen und Herren, die uns dennoch nicht davon abhalten können, uns einen Weg durch die engen Gassen von Santacruz zu erkämpfen.
     Die Kirmes ist rappelvoll und in ihr ist es noch lauter, als auf den Straßen von Mumbai, was ich erst für unmöglich hielt. Shreya und ich müssen uns anbrüllen, um einander verstehen zu können.
     »Wohin willst du zuerst, Priya?«, schreit Shreya.
     Mein Magen knurrt. »Lass uns etwas Essen gehen! Ich habe einen Mordshunger!«
     Shreya nickt und zeigt auf einen Imbisswagen, auf dessen Schild die Worte Chachi Tyala (übersetzt: Tante Tyala) prangen. Wir drängeln uns vor und Shreya bestellt uns beiden Panipuri. Gerade als ich mir einen Puri gefüllt mit Kartoffeln, Kichererbsen, Zwiebeln und Chili in den Mund schieben will, spüre ich einen harten Schlag auf meinem Oberarm. Ich schrecke zusammen – mein Puri fällt auf den Boden.
     »Geht’s noch?«, fauche ich und sehe in das feixende Gesicht von Darshan Sharma.
     »Tut mir leid, Cousinchen«, grinst er. »Ich hol dir einen neuen Panipuri, ja? Aber nur einen.«
     »Brauchst du nicht.« Ich verschränke die Arme vor die Brust. »Außerdem blutest du aus der Nase. Sieht hässlich aus.«
     Darshan wischt sich mit dem Handrücken die Nase und schmiert sich den Blutfilm an die Hose.
     »Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung mit ’n Paar Kapurs«, sagt er stolz. »Meine Crew und ich haben denen ordentlich einen aufs Maul gehauen. Meinten wohl, die könnten sich einfach so in unserem Revier aufhalten.«
     Shreya schiebt sich einen Panipuri nach dem anderen in den Mund. Sie findet meinen Cousin überaus gut aussehend und kann ihre Augen gar nicht von ihm lassen. Und ich könnte kotzen, so sehr nervt mich dieser eingebildete Sack gerade.
     »Du und deine Crew, Darshan? Du und deine Crew?«, ich schnaube verächtlich. »Die Sharmas besitzen kein Revier. Das heißt, dass sich jedermann frei in Bandra bewegen kann. Auch die Kapurs. Außerdem ist es eine Sache zwischen Vater und Shriman Kapur. Euch hat das Ganze überhaupt nicht zu interessieren.«
     Mittlerweile haben sich ein Dutzend Jungs der Sharma-Crew um Darshan versammelt und werfen mir einen grimmigen Blick zu. Die Sharma-Crew sieht es seit einem halben Jahrzehnt als ihre Aufgabe, Kapurs zu jagen und zu verprügeln, mit der Ausrede, dass es sich nun einmal um Kapurs handelt. Der Konflikt zwischen den Sharmas und den Kapurs reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Shriman Kapur soll meinem Vater Rahul Sharma angeblich ein Vermögen von hundert Millionen Rupien gestohlen haben. Zwanzig Jahre hatten sich beide Oberhäupter der Sharmas und Kapurs bekriegt. Die Sharmas verlangten ihre Rupien zurück, doch die Kapurs waren sich keiner Schuld bewusst und dachten noch nicht einmal daran, den happigen Betrag von hundert Millionen Rupien zu zahlen. Nun ist Zeit vergangen und tatsächlich auch Gras über das Ganze gewachsen. Es herrscht zwar noch immer eine gewisse Aversion zwischen den beiden Familien, doch hat man sich geeinigt, sich einfach aus dem Weg zu gehen.
Nur die Kinder der Sharmas und Kapurs und die Kinder derer Diener wollen nicht so recht begreifen, dass die Schlacht zwischen den beiden Familien Vergangenheit ist. Mit ihren Kämpfen lassen sie den Konflikt erneut aufflammen, sodass der Ausbruch eines erneuten Familienkriegs droht. Gut, ich habe auch nicht viel für die Kapurs übrig. Ihre hochnäsige, eigensinnige Art macht es nicht einfach, sie zu mögen.
     »Uns hat es nicht zu interessieren, Priya? Nicht zu interessieren?«, zischt Darshan zwischen seinen Zähnen. »Die Kapurs sind elendige Diebe! Denen muss man die Leviten lesen, nicht Jungs?«
     Darshan sieht in die Runde und seine Crew grölt wie aus einem Munde: »JAWOHL!«
     »Dem Großmaul von Kapur muss der Mund gestopft werden!«, kreischt Darshan. »Keiner redet schlecht über die Sharma, ohne derbe Konsequenzen zu erwarten!«
     »JAWOHL!«
     »Niemand legt sich mit den Sharmas an! Jeder, der es wagt, unterzeichnet sein eigenes Todesurteil!«
     »JAWOHL!«
     »Sharma über jeden!«
     »SHARMA ÜBER ALLES!«
     Jubelnd kämpfen sich Darshan und seine Crew einen Weg durch die Menge und verschwinden in ihr, wie von ihr verschluckt.

Shreya und ich schlendern durch die Kirmes. Uns beiden ist die Lust vergangen, das Karussell oder das Riesenrad zu besteigen. Ich bin nach dem Treffen mit der Sharma-Crew nur noch genervt und Shreya ist von den Panipuris schlecht geworden. Der Sharma vs. Kapur Streit wird noch ein schlechtes Ende nehmen. Ich habe es ganz fest im Gefühl. Irgendwann wird es richtig eskalieren und dann werden mir Darshan und seine Sharma-Crew die Schulter klopfen, weil ich recht hatte.
     »Erzähl mir was über Darshan.«
     »Shreya!«
     »Komm schon, Priya«, bettelt Shreya. »Verrat mir«, sie schürzt die Lippen, »wie alt er ist.«
     »Das weißt du doch schon.«
     »Hab’s wieder vergessen«, quengelt Shreya und pikst mir so lange in den Arm, bis mir die Sicherungen durchbrennen.
     »Neunzehn, okay! Er ist neunzehn. Und wenn du ein bisschen rechnen könntest, wüsstest du das. Er war schon immer zwei Klassen über uns gewesen.«
     »Wieso hast du mir nie erzählt, wie gut er jetzt aussieht?«
     Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und kann mich in letzter Sekunde davon überzeugen, dass es wohl keine so gute Idee wäre, jetzt laut loszubrüllen.
     »Ich meine«, schwärmt Shreya weiter, »gut schöne Augen hatte er schon damals gehabt. Aber das ist für einen Sharma nichts Besonderes. Alle Sharmas haben wunderschöne grüne Augen. Wie ich dich beneide, Priya. Ich muss mich mit meinen langweiligen braunen Augen zufriedengeben.« Shreya seufzt und kratzt sich am Kinn. »Aber die muskulösen Arme, dieses markante Kinn und die breiten Schultern«, sie beißt sich auf die Unterlippe und zeichnet mit ihren Händen das breite Kreuz eines Mannes in die Luft, »hatte er damals nicht gehabt, oder? Das hätte ich schließlich gemerkt!«
     »Er ist ein Dummkopf«, sage ich mit der Hoffnung ihrer Schwärmerei Einhalt zu gebieten. »Vergiss den besser.«
     Shreya packt meinen Arm und hyperventiliert. Erschrocken sehe ich in die Runde.
     »Was ist?«, keuche ich panisch. »Sag, was los ist!«
     »Paati Pooja’s Zukunftsvisionen«, liest Shreya von einem dreckigen Ladenschild. »Sie kann mir mit Sicherheit sagen … O, lass uns reingehen, Priya! «
     »Fünfhundert Rupien für eine Vorhersage?« Fassungslos starre ich auf die Preisliste. »Will die mich eigentlich ver-«
     »Das ist eine gute Investition, Priya, komm schon!« Ohne auf meine Antwort zu warten, zerrt mich Shreya in den Laden hinein.
In ihm ist es noch stickiger als in Vaters alter Schuhkommode und noch wärmer als in einer Sauna. Es ist ein kleiner Raum; lediglich ausgestattet mit einem durchlöcherten Teppich und einem kleinen Rundtisch mit drei Stühlen, auf dem eine Glaskugel weilt, die von zwei alten Händen geliebkost wird.
     »Gäste. Paati Pooja hat immer gerne Gäste, o ja.«
     Paati Poojas graue Haare stehen zu Berge. Sie trägt einen violetten Sari, an dem weißer Plüsch befestigt ist. Ihre Augen sind milchig und verleihen ihr einen leicht wahnsinnigen Blick. Sie ist blind.
     »Lass uns verschwinden«, zische ich Shreya zu. Sie zerrt mich aber zu den beiden Stühlen vor Paati Pooja. Unbehaglich lasse ich mich auf einen klapprigen Stuhl fallen.
     »Wie kann euch Paati Pooja behilflich sein?« Sie faltet ihre sehnigen Hände ineinander und blickt ins Leere.
     Shreya atmet tief ein und fährt sich durch das blondierte Haar. Das macht sie immer, wenn sie aufgeregt ist.
     »Also …«
     »Na, na«, macht Paati Pooja und hält Shreya ihre Hand entgegen. »Erst die Moneten.«
     »O, natürlich!« Shreya läuft rot an und fünfhundert Rupien wechseln den Besitzer. »Ich wollte Sie fragen … Ich will wissen … Wann werde ich meine bessere Hälfte treffen?«
      Ich werfe Shreya einen entgeisterten Blick zu.
Sie schwärmt gewöhnlich von hübschen Jungs, nur ist es das erste Mal, dass sie darüber nachdenkt, den Richtigen zu treffen, um mit ihm eine Bindung einzugehen. Ich könnte kotzen, ehrlich.
     Paati Pooja legt beide Hände auf die Kugel und wirft ihren Kopf in den Nacken. »O Kugeli, o Kugeli. Was offenbarst du mir heute?«
     Eine gefühlte Ewigkeit bleibt es ruhig im Raum und ohne hinschauen zu müssen, weiß ich, dass Shreya der alten Frau an den Lippen hängt. Dann durchbricht Paati Pooja’s Schmatzen die Stille.

»Ein hübscher Bub im Mondlicht,
wird dir vernebeln die ganze Sicht.
Nimmer erwartet hättest du
den Dieb, der stielt dein Herz im Nu.
Ein Sommertag? O nein, nein, nein.
Ein Wintertag? Wär fein, fein, fein.
Am Frühling denn? Vielleicht, aber ein
Brückentag wird’s sein, sein, sein.«
        
Shreya keucht auf und packt nach meiner Hand.
     »Und was kann ich für Sie tun?«, fragt Paati Pooja mir zugewandt. »Dieselbe Frage? Oder doch eine andere?«
     »Ich will gar nichts wissen. Ich glaube Ihrem Hokuspokuskram nicht«, sage ich und will schon aufstehen, als Paati Pooja mein Handgelenk umfasst. Erschrocken starre ich auf ihre langen, gelben Fingernägel.
     »Testen Sie mich. Erlauben Sie mir die Kugel über Ihre Person auszufragen. Womöglich haben Sie recht und ich bin eine Schwindlerin, aber vielleicht …«
     »Setz dich wieder«, flüstert Shreya und ich lasse mich widerwillig auf meinen Platz fallen.
     »O Kugeli, o Kugeli. Was offenbarst du mir heute?«
     Paati Pooja liebkost ihre Kugel mit den Händen und wirft ihren Kopf erneut in den Nacken. Ich verschränke die Arme vor die Brust und blicke gelangweilt auf ihre sehnigen Hände. Von mir wird sie keinen einzigen Rupien bekommen.
     »Du bist Priya, Priyanka Sharma«, Paati Pooja keucht, »doch in dir lebst du nicht allein. Eine traurige Seele genistet in deiner, verschwieg siebzehn Jahre ihr Sein.«
     »Natürlich lebe nur ich in meinem Körper. Oder meinen Sie, dass die Kolkata Knight Riders der Indian Premier League auch in mir hausen? Am besten noch ganz Mumbai!« Ich werfe Shreya einen entnervten Blick zu und schnaube verächtlich.
     Paati Pooja fährt aber unbeirrt fort:
     »Sie schreit ihren Namen. Ich kann sie verstehen! Sie schreit: ›Bin Julia Capulet!‹ Mit den tief dunklen Ringen unter ihren Augen hat sie mich doch glatt erschreckt. Sie wurd‘ gesandt auf Erden, um ihr allergrößt‘ Wunsch zu erfüllen. Um zusammen mit ihrer besseren Hälfte ein glückliches Leben zu verbringen.« Paati Pooja reißt ihre milchigen Augen auf und beugt sich zu mir vor, dass ich ihren heißen, fauligen Atem auf meiner Stirn spüren kann, als sie spricht: »Der Geist von Julia Capulet versucht durch dich, Priyanka Sharma, ein glückliches Leben zu führen, wo ihr letztes Leben so tragisch geendet war. Durch dich«, Paati Pooja reißt ihre Augen nun so weit auf, dass ich für einen Moment denke, sie fallen heraus, »versucht sie doch noch ein schönes Ende mit ihrem Romeo zu finden.«