DIE HORROR SCHWESTERN
Die
Sonne geht auf und taucht mein Zimmer in rotgoldenes Licht. Ein ziemlich
hübscher Anblick, wenn ihr mich fragt. Trotzdem kann in diesem Augenblick überhaupt
nichts meine miese Laune heben. Ich habe gefühlte Jahre gebraucht, um
einzuschlafen und bin letztendlich doch nur in einen unruhigen Schlaf
geglitten. Ich reibe mir die Augen. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich, wie
angeschwollen sie sind.
Ich habe
definitiv zu wenig geschlafen.
Ihr wollt
wissen, woher die schwere Schlaflosigkeit kommt? Nicht aus heiterem Himmel,
nein. Meinen Schlafmangel verdanke ich ganz allein meiner wundervollen Mutter
und ihren abnormalen Rachegelüsten.
Shreya ist Mitschuld.
Nur,
weil sie mich nach der Kirmes
unbedingt noch in ein chinesisches Restaurant zerren musste, um Paati Pooja’s
Vorhersagen mit mir auszudiskutieren, kam ich vorgestern zu spät zum
Abendessen. Ganze drei Minuten … Mutters Hirn tickt aber – wer hätte es denn gedacht?
– anders. Diese drei Minuten waren für sie, als hätte ich mich um Stunden
verspätet – Tage, nein, zig Lichtjahre. Und das kommt Mutter gerade recht. Ihr hat
es geradezu unter den Fingerkuppen gejuckt, mir eine deftige Strafe
reinzuwürgen. Aber sogar Mutter weiß, dass sie dafür einen ebenfalls deftigen
Grund brauch.
Ich habe ihr vorgestern einen geliefert,
verdammt.
Und
wie kann man jemanden wie mich am besten bestrafen? Mit Hausarrest? Nein. Zwar hat Shreya noch heute mit
schrecklichen Heulkrämpfen zu kämpfen, wenn sie Hausarrest bekommt, doch mir
macht es schon gar nichts mehr aus, so oft habe ich es aufgebrummt bekommen. Außerdem
schleiche ich mich sowieso immer wieder raus und meine Eltern sind es leid, mir
hinterherzutelefonieren. Mit Putzarbeiten wie zum Beispiel Zimmer aufräumen
oder dreckiges Geschirr spülen? Auch
nicht. Ich würde dann einfach Rohit und seine Brüder bezahlen, die dann die
Aufgaben für mich erledigen.
Die Drei tun alles für einpaar Rupien.
Man
kann mich so richtig foltern, in dem man mich zwingt, wie eine Mahila rumzulaufen.
Mit Sari und Bindi und Schminke. Ich erschaudere. Und genau das hat Mutter
getan. Heute feiert meine Cousine Aishwarya ihren achtzehnten Geburtstag. Ich kann
sie nicht leiden. Ihre hochnäsige Art kann einen in den Wahnsinn treiben. Vor
allem, da sie noch nicht einmal einen Grund vorweist, womit sie überhaupt angeben
kann. Und als mich Mutter vor einer Woche fragte, ob ich hinwollte, war sie
noch damit einverstanden, dass ich etwas Besseres zutun habe. Schließlich
würden dort unzüchtige Dinge laufen
und es sei besser, dass meine Kinderaugen
davon verschont bleiben. Mutters Worte nicht meine … Aber gestern meint sie
plötzlich, ich müsse doch dort hin – mit Sari und Bindi und Schminke. Ich könnte
kotzen, ehrlich.
Erst
dachte ich, dass ich einfach abhauen kann, aber Mutter hat Darshan angeheuert, mich
zu begleiten, und auf mich aufzupassen, sodass ich ja nicht wegkomme.
Habe ich schon mal erwähnt, dass mein
Cousin Darshan ein kleiner Arschkriecher ist?
Das, was Mutter sagt, ist sein Gesetz.
Jemand
klopft an die Tür und ich zucke zusammen. Es ist Shrimati Naina.
»Guten Morgen, Kumari Priya«, sagt sie. »Sie
sind schon wach? Für gewöhnlich schlafen Sie noch, um diese Zeit.«
Schnaufend reiße ich die Bettdecke von meinen
Beinen und versuche meine Füße in meine quietschgrünen Badelatschen zu zwängen.
Heute benötige ich unglaublich viele Versuche dafür.
»Ihre Augen, Kumari!«, keucht Shrimati
Naina. Sie muss sich an meiner Nussbaumkommode abstützen. »Was haben Sie jetzt schon
wieder angestellt, hm?«
»Ich konnte nicht schlafen«, murmele ich
gähnend.
»Die Singh Schwestern haben nicht alle
Zeit der Welt aus Ihnen eine Mahila zu machen, Kumari Priya. Sie kommen in einer
halben Stunde. Ich würde mich vorher noch ein wenig frisch machen, wenn ich Sie
wäre. Wir wollen ja nicht, dass die Singh Schwestern in Ohnmacht fallen, hm?«
Mit diesen Worten stampft Shrimati Naina aus
meinem Zimmer. Und ich falle aus allen Wolken.
Die Singh Schwestern! Okay, noch schlimmer
kann mein Tag nun wirklich nicht mehr werden. Die Singh Schwestern sind Mutters
ferne Verwandten und so unerträglich nervig, dass ich sie insgeheim die Horror Schwestern nenne. Ihr werdet noch
verstehen, weshalb.
»Priya!«,
zischt Mutter und deutet auf meine Sitzhaltung.
Ich zucke mit den Achseln. Sie wird mich
niemals dazu bekommen, meine Beine übereinanderzuschlagen.
»Lass sie doch, Rhea«, murmelt Vater,
verstummt aber sofort bei dem wütenden Blick, den Mutter ihm zuwirft.
Dann murmelt sie etwas von Respekt und
Göttern. Vater schürzt seine Lippen. Das macht er immer, wenn er große Mühe
hatte, sein Lachen zu unterdrücken. Ich grinse.
Im selben Moment schreitet Babu ins
Zimmer.
»Ihre Gäste sind eingetroffen.«
»Führen Sie sie hierher ins Wohnzimmer,
ja?«, sagt Mutter schnell. Sie erhebt sich und glättet aufgeregt die Falten in
ihrem blutroten Sari. Sie trägt heute den Teuersten, den sie zu bieten hat.
Vater hat ihn ihr letztes Jahr in Malaysia gekauft. »Keine Dummheiten, Priya.«
Ich seufze. Amüsiert funkelt mich Vater mit
seinen grünen Augen an. Zwei Frauen mittleren Alters watscheln ins Wohnzimmer
und blicken umher, als sähen sie zum allerersten Mal Sonnenlicht. Sie gleichen
sich wie ein Ei dem anderen. Beide haben ein großes, fleischiges Gesicht mit
Wangen, als verstecken sie Mangos darin, und lange schwarze Haare, die ihnen
bis zum Po reichen.
»Aaah.
Mh-hm«, macht die eine Horror Schwester. »Hast dich doch für die
apricotfarbenen Gardinen entschieden, die ich dir empfohlen habe. Sehr gute
Wahl, Rhea.«
Mutter
lacht hysterisch. Als ihr Blick auf mich fällt, bricht sie abrupt ab. Die
andere Horror Schwester macht sich währenddessen an unserem Obstteller zu
schaffen und schmatzt sich durch grüne Papayas und gelbe Datteln.
»Nun«, beginnt Mutter, »ihr müsst nach
der langen Reise großen Hunger haben.« Von Gopal Bhavan nach Bandra
sind es gerade mal zehn Minuten mit dem Bus. »Wir haben Essen gemacht.«
Shrimati Naina hat das Essen gekocht, korrigiere ich sie in Gedanken. »Folgt
mir ins Esszimmer.«
Glücklich dackeln die Horror Schwestern
Mutter hinterher. Vater und ich bleiben sitzen. Wir sehen uns an und müssen in
derselben Sekunde lachen.
»War das deine Idee?«, frage ich grinsend und
sehe Vater dabei zu, wie er eine Träne von seinen Augenwinkeln wischt.
»Meine?
Du kennst deine Mutter doch.« Ich nicke stumm. Ich kenne Mutter nur zu gut. »Du
wirst es schon überstehen, Kleines«, sagt Vater und erhebt sich. »Versuch heute
einfach ein wenig netter zu den Singh Schwestern zu sein. Das besänftigt deine
Mutter sicher.«
Mit einem Augenzwinkern verlässt er das
Wohnzimmer.
Vielleicht hat Vater recht. Womöglich ist
das eine von Mutters eigenartigen Prüfungen. Wenn ich sie bestehe – wenn ich
also höflich zu den Horror Schwestern bin – muss ich vielleicht gar nicht mehr
zu Aishwaryas Party. Okay. Du wirst
höflich sein, befehle ich mir. Egal wie
nervig sie heute sein werden, du wirst dich zusammenreißen!
Gut, sie würden mich trotzdem wie eine
Mahila kleiden. Aber wie eine Mahila zurechtgemacht zu werden und vor anderen
wie eine Mahila rumlaufen zu müssen, sind für mich zwei verschiedene Paar
Schuhe. Ich weiß, dass ich erst dann im Erdboden versinken würde, wenn ich –
zurechtgemacht wie eine Puppe – in Aishwaryas Party erscheinen müsste.
Ich würde sterben, so peinlich wäre das.
Während
die eine Horror Schwester mir Beine, Arme und Achselhöhlen mit irgendeinem stinkenden,
klebrigen Zeug enthaart, reißt mir die andere Horror Schwester fast die Haare vom
Kopf.
»Wer schön sein will, muss leiden, Liebes«,
sängelt die eine Horror Schwester. »Und du willst doch wie eine Mahila ausschauen,
nicht Priyanka?«
Du wolltest höflich sein,
ermahne ich mich und beiße mir fast die Zähne aus. Ich werfe Mutter einen
schnellen Seitenblick zu. Sie sieht mich prüfend an. Wartet womöglich darauf,
dass ich einen Fehler mache; dass ich explodiere. Schweren Herzens schlucke ich
das weniger nette Wort hinunter, das ich beiden Horror Schwestern an den Kopf
werfen wollte, und lächle. »Aber natürlich, Tantchen«, säusle ich zuckersüß,
dabei hätte ich nur zu gerne gekotzt.
»Sieh dir mal ihre Brauen an,
Schwesterherz!«
»Erinnern mich eher an einen afrikanischen
Urwald, wenn du mich fragst«, flüstert die andere Horror Schwester entsetzt. »Her
mit der Pinzette. Los, los!«
Ich hätte am liebsten losgebrüllt, als sie
sich mit dem Etwas, das sie eine Pinzette
nennt, meinen Augenbrauen nähert.
»Haben Sie keine Angst, Kumari!«, ruft mir
Shrimati Naina ermunternd zu. »Es ist gar nicht so schlimm, wie Sie denken!«
»AUUU!«, schreie ich und hätte der einen
Horror Schwester am liebsten die faltige Visage mit der Faust poliert. Ich habe
schon meine Hände zu Fäusten geballt – besinne mich in letzter Sekunde aber wieder.
Stöhnend wische ich mir die tränenden Augen. Das hat verdammt wehgetan!
Und so geht es eine ganze halbe Stunde
weiter. Zwar meint Mutter der Schmerz wird mit der Zeit besser werden und ich
solle mich nicht so anstellen. Tatsächlich tut es nach dem zwanzigsten Haar
genauso weh wie beim Allerersten.
»Ah«, seufzt Shrimati Naina. »Sehen Sie
sich das mal an!« Sie deutet auf mein Gesicht. »Sieht doch viel besser aus, hm?«
Die eine Horror Schwester dreht meinen
Stuhl – immer und immer wieder. Mir war so schlecht, ich hätte mich am liebsten
in mein Bett gelegt und eine Siesta gemacht. Aber das, was ich dann zu Gesicht bekomme,
verschlägt mir die Sprache. Mein Schwindelgefühl ist abrupt in den Hintergrund
gerückt. »W-Was ist d-das?«, stottere ich entsetzt und zeige auf den schwarzen Koffer,
den die eine Horror Schwester mit Shrimati Nainas Hilfe auf meinen Schreibtisch
hievt.
»Unser kleines Schminkkästchen.«
Schminkkästchen
ist schlichtweg untertrieben – und klein ist es auch nicht. Es ist eher ein
saugroßer, megaabnormaler Schminkkasten, mit dem man mal eben einen Menschen erschlagen
kann. Sogar den Hulk könnte man damit lahmlegen, so groß ist das Teil. Und
darin befinden sich unendliche Pinsel verschiedener Größen, eine gigantische
Palette mit Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, und anderes
Schminkzeugs. Sie gleichen Folterinstrumente.
Mit einem
rupft man Wimpern; mit einem anderen kann man Augäpfel rauslöffeln.
Die wollen mich
umbringen.
Es
dauert eine ganze Stunde, bis sie fertig mit meinem Make-up sind. Und ich fühle
mich, als trüge ich eine Maske. Oder als hätte man mir soeben Botox ins Gesicht
gespritzt.
Nicht – angenehm.
»Hey!«, meckere ich und schlage der einen
Horror Schwester, die versucht hatte mir mein Superman T-Shirt auszuziehen, auf
die Hand. »Was soll das?« Höflich sein,
Priya. »W-Was macht ihr mit mir?«, füge ich ein wenig netter hinzu.
»Jetzt kommt der große Augenblick,
Priyanka.«
Ich hebe beide Brauen und neige meinen
Kopf nach rechts.
»Dein Kleid, Kumari Priya!«, seufzt
Shrimati Naina und schlägt sich beide Hände auf den Mund. »Kann’s kaum erwarten!«
»Darf ich vorher wenigstens sehen«, was ihr mit meinem Gesicht angestellt habt?,
denke ich, »wie mein Make-up aussieht?«, frage ich.
Ohne Vorwarnung schubsen mich beide Horror
Schwestern vom Stuhl. Beinahe wäre ich auf die Schnauze gefallen, hätte ich mich
nicht rechtzeitig mit den Händen abgestützt.
»Ausziehen!«, rufen die Horror Schwestern im
Chor und klatschen – Kindern an ihrem ersten Schultag gleich – aufgeregt in die
Hände.
Shrimati Naina kommt zu mir angerannt. Nach
einer Minute stehe ich splitterfasernackt in meinem Zimmer. Hatte ich gemeint,
der Tag könne nicht schlimmer werden?
Großer Irrtum.
Und
da stehe ich nun. In einem Sari, geschminkt und mit Bindi. Mein Sari war
tiefblau und an meinem Dekolleté schimmern goldene Steinchen. Anders wie bei
meinem grünen Sari, auf dem ich versehentlich Chicken Tikka Masala gekleckert habe,
kratzt dieser Stoff nicht, sondern schmiegt sich sanft an meine Haut. Erleichtert
atme ich den Stress der letzten Tage aus. Das Schlimmste ist vorüber. Ich habe
es überstanden. Ich bin für meine Verhältnisse höflich geblieben. Habe meine
Zunge im Zaum gehalten. Mutter muss einfach
gnädig mit mir sein.
Ich sehe in die Runde. Acht Augen sind auf
mich gerichtet. Ich meine sogar ein kleines Lächeln auf Mutters Lippen erkennen
zu können. Sie wird mich ziehen lassen. Ganz sicher.
»Oh, Kumari«, säuselt Shrimati Naina und
wischt sich eine Träne von den Augenwinkeln, »Sie sehen wunderschön aus.«
Die Horror Schwestern legen mir zum
Abschluss goldenen Schmuck an. Sie summen zu einer grauenhaften Melodie, als
sie mich zu meinem großen Spiegel schieben. Und dann trifft mich der Schlag. Das
Mädchen, das ich darin sehe, ist jemand anderes – aber nicht ich. Ich kenne sie
nicht; sie ist mir völlig fremd. Mein Herz pocht mir bis zum Hals, als ich mich
langsam dem Spiegel nähere. Ich streiche mir über die Wangen und lasse dabei das
fremde Mädchen im Spiegel nicht aus den Augen. Auch ihre grünen Augen bleiben
skeptisch auf mich geheftet, während sie meine Bewegung exakt nachahmt.
Die
langen, schwarzen Locken des Mädchens fallen über ihre Schultern und bilden
eine perfekte Harmonie mit der Farbe ihres Saris. An der Taille sitzt ihr der
edle Stoff eng am Körper, wird dann lockerer und streift zuletzt fast den
Boden. Ihr Gesicht gleicht beinahe einer Puppe, wäre da nicht die kräftige Nase
... »Was habt ihr mit mir gemacht?«, flüstere ich entsetzt.
Ich habe gewusst, was auf mich wartet.
Aber dieser Anblick ist schlichtweg ein Schock. Nie wollte ich wie die anderen
Mahilas sein – wie die ganzen komischen Tussen auf den Straßen, die denken, sie
müssen sich für die Männer in Mumbai aufstylen. Nie wollte ich so ein Modeopfer
sein – eine Puppe. Und nun reicht ein bisschen Make-up und ein bisschen Stoff,
um mich genau zu dem zumachen? Das bin nicht ich. Das ist nicht die Priya, vor
der die Männer aus dem Weg springen, aus Angst einen frechen Spruch einstecken
zu müssen. Die Priya, die Skateboard fährt und sich mit Jungs versteht, ohne
sie daten zu müssen. Die Priya, die sich nichts Sagen lässt.
Niemand darf mich so sehen. Niemand.
Ein
Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Bevor ich auch nur einen Laut von mir
geben kann, öffnet Shrimati Naina die Tür. Es ist Darshan.
Okay, ich werde heute zur Mörderin.
»Ich weiß … Bin zu früh dran, aber –«
Darshan stockt, als er mich sieht. Ich werde rot wie eine Tomate. »Cousinchen?
Bist du es?« Er lacht. »Hätt‘ dich kaum wiedererkannt! Du siehst so … anders aus.«
»Halt die Klappe, Darshan«, keife ich. »Du
bist im Smoking auch keine Augenweide.«
Darshan verschränkt die Arme vor der
Brust.
»Meinte eigentlich, dass du ganz hübsch
aussiehst«, beginnt er, »wenn man das Gesicht außer Acht lässt.«
»Nun«, sagt Mutter schnell und reibt sich
die Hände, bevor ich kontern kann. »Wie ... wäre es mit einem Masala Chai,
Schwestern? Nach dieser Höchstleistung kann nur ein guter Tee Körper und Geist
beruhigen, nicht?«
»Mh-hm«,
stimmen ihr die Horror Schwestern zu und folgen Shrimati Naina samt Equipment
aus meinem Zimmer. Bevor auch Mutter sich ihnen anschließt, packe ich nach
ihrem Handgelenk und starre sie hoffnungsvoll an. »Ich war heute höflich,
nicht?«
Mutter hebt eine Braue.
»Höflicher als sonst«, füge ich schnell
hinzu.
Mutter wirft mir einen skeptischen Blick
zu, schweigt aber.
»Ich muss nicht mehr zu der
Geburtstagsparty, oder?«
Sekunden verstreichen. Dann lacht Mutter
plötzlich.
»Du wirst dahingehen, Priyanka.«
»A-Aber –«, stottere ich entsetzt.
»Keine Widerworte.«
Mutter verlässt mein Zimmer und ich bin
erstarrt.
Alles
ist umsonst gewesen. Alles. Ich brauchte gar nicht höflich sein. Mutter will
mich bestrafen. Und ihre Strafe liegt nun einmal darin, dass ich, wie eine
Mahila gekleidet, in Aishwaryas Party aufkreuze.
Jeder wird mich sehen. Man wird den
Respekt vor mir verlieren, den ich mir mühevoll über die Jahre verdient habe. Man
wird mich auslachen. Ich, Priyanka Sharma, tanze in einem Sari, mit Bindi und Schminke
an, obwohl ich damals noch große Töne gespukt habe, keine zehn Pferde würden
mich dazu bekommen.
»Ist doch kein Weltuntergang«, sagt
Darshan ohne den Blick von meinem alten Gameboy abzuwenden. »Ein bisschen
feiern, ein bisschen trinken … Weiß gar nicht, was du hast, Cousinchen.«
Erst werfe ich ihm einen überraschten
Blick zu. Habe ganz vergessen, dass er sich immer noch in meinem Zimmer aufhält.
Dann hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen. Im selben Augenblick
trudelt eine brillante Idee in meinen Kopf. »Hey, Darshan?«
»Hm?«, macht er, ohne vom Gameboy
aufzuschauen.
»Sei doch mal ehrlich«, beginne ich. »Du
hast auch nicht wirklich Bock auf die Party, nicht? Wie wär’s, wenn wir beide
uns einfach einen schönen Tag machen? Im Candies oder im Mc Donald’s
vielleicht? Ich lad dich ein! Und wenn Mutter fragt, sagen wir ihr einfach,
dass wir von Aishwaryas Party kommen.« Hoffnungsvoll reiße ich die Augen auf.
Er scheint darüber nachzudenken.
Darshan wirft den Gameboy auf mein Bett.
»Klingt nicht schlecht«, ich bin kurz
davor Freudensprünge zu machen, »aber das Angebot deiner Mutter ist verlockender.«
Und ein zweites Mal falle ich aus allen
Wolken. »Wie viel gibt sie dir?«
»Unbezahlbar für dich«, wispert er nur.
»Darshan, sag schon!«
Er zuckt mit den Achseln und grinst.
»Außerdem würde ich nur zu gerne sehen,
wie andere auf dich reagieren werden. Priyanka Sharma sieht man vielleicht kein
zweites Mal im Sari.« Er lacht laut. »Wenn ich du wäre, würde ich lieber nicht
darüber nachdenken, abzuhauen. Deine Mutter hat noch weit mehr Leute
angeheuert, die dich observieren sollen. Bleib also einfach an meiner Seite,
okay Cousinchen?«
DIE HORROR SCHWESTERN
Die
Sonne geht auf und taucht mein Zimmer in rotgoldenes Licht. Ein ziemlich
hübscher Anblick, wenn ihr mich fragt. Trotzdem kann in diesem Augenblick überhaupt
nichts meine miese Laune heben. Ich habe gefühlte Jahre gebraucht, um
einzuschlafen und bin letztendlich doch nur in einen unruhigen Schlaf
geglitten. Ich reibe mir die Augen. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich, wie
angeschwollen sie sind.
Ich habe
definitiv zu wenig geschlafen.
Ihr wollt
wissen, woher die schwere Schlaflosigkeit kommt? Nicht aus heiterem Himmel,
nein. Meinen Schlafmangel verdanke ich ganz allein meiner wundervollen Mutter
und ihren abnormalen Rachegelüsten.
Shreya ist Mitschuld.
Nur,
weil sie mich nach der Kirmes
unbedingt noch in ein chinesisches Restaurant zerren musste, um Paati Pooja’s
Vorhersagen mit mir auszudiskutieren, kam ich vorgestern zu spät zum
Abendessen. Ganze drei Minuten … Mutters Hirn tickt aber – wer hätte es denn gedacht?
– anders. Diese drei Minuten waren für sie, als hätte ich mich um Stunden
verspätet – Tage, nein, zig Lichtjahre. Und das kommt Mutter gerade recht. Ihr hat
es geradezu unter den Fingerkuppen gejuckt, mir eine deftige Strafe
reinzuwürgen. Aber sogar Mutter weiß, dass sie dafür einen ebenfalls deftigen
Grund brauch.
Ich habe ihr vorgestern einen geliefert,
verdammt.
Und
wie kann man jemanden wie mich am besten bestrafen? Mit Hausarrest? Nein. Zwar hat Shreya noch heute mit
schrecklichen Heulkrämpfen zu kämpfen, wenn sie Hausarrest bekommt, doch mir
macht es schon gar nichts mehr aus, so oft habe ich es aufgebrummt bekommen. Außerdem
schleiche ich mich sowieso immer wieder raus und meine Eltern sind es leid, mir
hinterherzutelefonieren. Mit Putzarbeiten wie zum Beispiel Zimmer aufräumen
oder dreckiges Geschirr spülen? Auch
nicht. Ich würde dann einfach Rohit und seine Brüder bezahlen, die dann die
Aufgaben für mich erledigen.
Die Drei tun alles für einpaar Rupien.
Man
kann mich so richtig foltern, in dem man mich zwingt, wie eine Mahila rumzulaufen.
Mit Sari und Bindi und Schminke. Ich erschaudere. Und genau das hat Mutter
getan. Heute feiert meine Cousine Aishwarya ihren achtzehnten Geburtstag. Ich kann
sie nicht leiden. Ihre hochnäsige Art kann einen in den Wahnsinn treiben. Vor
allem, da sie noch nicht einmal einen Grund vorweist, womit sie überhaupt angeben
kann. Und als mich Mutter vor einer Woche fragte, ob ich hinwollte, war sie
noch damit einverstanden, dass ich etwas Besseres zutun habe. Schließlich
würden dort unzüchtige Dinge laufen
und es sei besser, dass meine Kinderaugen
davon verschont bleiben. Mutters Worte nicht meine … Aber gestern meint sie
plötzlich, ich müsse doch dort hin – mit Sari und Bindi und Schminke. Ich könnte
kotzen, ehrlich.
Erst
dachte ich, dass ich einfach abhauen kann, aber Mutter hat Darshan angeheuert, mich
zu begleiten, und auf mich aufzupassen, sodass ich ja nicht wegkomme.
Habe ich schon mal erwähnt, dass mein
Cousin Darshan ein kleiner Arschkriecher ist?
Das, was Mutter sagt, ist sein Gesetz.
Jemand
klopft an die Tür und ich zucke zusammen. Es ist Shrimati Naina.
»Guten Morgen, Kumari Priya«, sagt sie. »Sie
sind schon wach? Für gewöhnlich schlafen Sie noch, um diese Zeit.«
Schnaufend reiße ich die Bettdecke von meinen
Beinen und versuche meine Füße in meine quietschgrünen Badelatschen zu zwängen.
Heute benötige ich unglaublich viele Versuche dafür.
»Ihre Augen, Kumari!«, keucht Shrimati
Naina. Sie muss sich an meiner Nussbaumkommode abstützen. »Was haben Sie jetzt schon
wieder angestellt, hm?«
»Ich konnte nicht schlafen«, murmele ich
gähnend.
»Die Singh Schwestern haben nicht alle
Zeit der Welt aus Ihnen eine Mahila zu machen, Kumari Priya. Sie kommen in einer
halben Stunde. Ich würde mich vorher noch ein wenig frisch machen, wenn ich Sie
wäre. Wir wollen ja nicht, dass die Singh Schwestern in Ohnmacht fallen, hm?«
Mit diesen Worten stampft Shrimati Naina aus
meinem Zimmer. Und ich falle aus allen Wolken.
Die Singh Schwestern! Okay, noch schlimmer
kann mein Tag nun wirklich nicht mehr werden. Die Singh Schwestern sind Mutters
ferne Verwandten und so unerträglich nervig, dass ich sie insgeheim die Horror Schwestern nenne. Ihr werdet noch
verstehen, weshalb.
»Priya!«,
zischt Mutter und deutet auf meine Sitzhaltung.
Ich zucke mit den Achseln. Sie wird mich
niemals dazu bekommen, meine Beine übereinanderzuschlagen.
»Lass sie doch, Rhea«, murmelt Vater,
verstummt aber sofort bei dem wütenden Blick, den Mutter ihm zuwirft.
Dann murmelt sie etwas von Respekt und
Göttern. Vater schürzt seine Lippen. Das macht er immer, wenn er große Mühe
hatte, sein Lachen zu unterdrücken. Ich grinse.
Im selben Moment schreitet Babu ins
Zimmer.
»Ihre Gäste sind eingetroffen.«
»Führen Sie sie hierher ins Wohnzimmer,
ja?«, sagt Mutter schnell. Sie erhebt sich und glättet aufgeregt die Falten in
ihrem blutroten Sari. Sie trägt heute den Teuersten, den sie zu bieten hat.
Vater hat ihn ihr letztes Jahr in Malaysia gekauft. »Keine Dummheiten, Priya.«
Ich seufze. Amüsiert funkelt mich Vater mit
seinen grünen Augen an. Zwei Frauen mittleren Alters watscheln ins Wohnzimmer
und blicken umher, als sähen sie zum allerersten Mal Sonnenlicht. Sie gleichen
sich wie ein Ei dem anderen. Beide haben ein großes, fleischiges Gesicht mit
Wangen, als verstecken sie Mangos darin, und lange schwarze Haare, die ihnen
bis zum Po reichen.
»Aaah.
Mh-hm«, macht die eine Horror Schwester. »Hast dich doch für die
apricotfarbenen Gardinen entschieden, die ich dir empfohlen habe. Sehr gute
Wahl, Rhea.«
Mutter
lacht hysterisch. Als ihr Blick auf mich fällt, bricht sie abrupt ab. Die
andere Horror Schwester macht sich währenddessen an unserem Obstteller zu
schaffen und schmatzt sich durch grüne Papayas und gelbe Datteln.
»Nun«, beginnt Mutter, »ihr müsst nach
der langen Reise großen Hunger haben.« Von Gopal Bhavan nach Bandra
sind es gerade mal zehn Minuten mit dem Bus. »Wir haben Essen gemacht.«
Shrimati Naina hat das Essen gekocht, korrigiere ich sie in Gedanken. »Folgt
mir ins Esszimmer.«
Glücklich dackeln die Horror Schwestern
Mutter hinterher. Vater und ich bleiben sitzen. Wir sehen uns an und müssen in
derselben Sekunde lachen.
»War das deine Idee?«, frage ich grinsend und
sehe Vater dabei zu, wie er eine Träne von seinen Augenwinkeln wischt.
»Meine?
Du kennst deine Mutter doch.« Ich nicke stumm. Ich kenne Mutter nur zu gut. »Du
wirst es schon überstehen, Kleines«, sagt Vater und erhebt sich. »Versuch heute
einfach ein wenig netter zu den Singh Schwestern zu sein. Das besänftigt deine
Mutter sicher.«
Mit einem Augenzwinkern verlässt er das
Wohnzimmer.
Vielleicht hat Vater recht. Womöglich ist
das eine von Mutters eigenartigen Prüfungen. Wenn ich sie bestehe – wenn ich
also höflich zu den Horror Schwestern bin – muss ich vielleicht gar nicht mehr
zu Aishwaryas Party. Okay. Du wirst
höflich sein, befehle ich mir. Egal wie
nervig sie heute sein werden, du wirst dich zusammenreißen!
Gut, sie würden mich trotzdem wie eine
Mahila kleiden. Aber wie eine Mahila zurechtgemacht zu werden und vor anderen
wie eine Mahila rumlaufen zu müssen, sind für mich zwei verschiedene Paar
Schuhe. Ich weiß, dass ich erst dann im Erdboden versinken würde, wenn ich –
zurechtgemacht wie eine Puppe – in Aishwaryas Party erscheinen müsste.
Ich würde sterben, so peinlich wäre das.
Während
die eine Horror Schwester mir Beine, Arme und Achselhöhlen mit irgendeinem stinkenden,
klebrigen Zeug enthaart, reißt mir die andere Horror Schwester fast die Haare vom
Kopf.
»Wer schön sein will, muss leiden, Liebes«,
sängelt die eine Horror Schwester. »Und du willst doch wie eine Mahila ausschauen,
nicht Priyanka?«
Du wolltest höflich sein,
ermahne ich mich und beiße mir fast die Zähne aus. Ich werfe Mutter einen
schnellen Seitenblick zu. Sie sieht mich prüfend an. Wartet womöglich darauf,
dass ich einen Fehler mache; dass ich explodiere. Schweren Herzens schlucke ich
das weniger nette Wort hinunter, das ich beiden Horror Schwestern an den Kopf
werfen wollte, und lächle. »Aber natürlich, Tantchen«, säusle ich zuckersüß,
dabei hätte ich nur zu gerne gekotzt.
»Sieh dir mal ihre Brauen an,
Schwesterherz!«
»Erinnern mich eher an einen afrikanischen
Urwald, wenn du mich fragst«, flüstert die andere Horror Schwester entsetzt. »Her
mit der Pinzette. Los, los!«
Ich hätte am liebsten losgebrüllt, als sie
sich mit dem Etwas, das sie eine Pinzette
nennt, meinen Augenbrauen nähert.
»Haben Sie keine Angst, Kumari!«, ruft mir
Shrimati Naina ermunternd zu. »Es ist gar nicht so schlimm, wie Sie denken!«
»AUUU!«, schreie ich und hätte der einen
Horror Schwester am liebsten die faltige Visage mit der Faust poliert. Ich habe
schon meine Hände zu Fäusten geballt – besinne mich in letzter Sekunde aber wieder.
Stöhnend wische ich mir die tränenden Augen. Das hat verdammt wehgetan!
Und so geht es eine ganze halbe Stunde
weiter. Zwar meint Mutter der Schmerz wird mit der Zeit besser werden und ich
solle mich nicht so anstellen. Tatsächlich tut es nach dem zwanzigsten Haar
genauso weh wie beim Allerersten.
»Ah«, seufzt Shrimati Naina. »Sehen Sie
sich das mal an!« Sie deutet auf mein Gesicht. »Sieht doch viel besser aus, hm?«
Die eine Horror Schwester dreht meinen
Stuhl – immer und immer wieder. Mir war so schlecht, ich hätte mich am liebsten
in mein Bett gelegt und eine Siesta gemacht. Aber das, was ich dann zu Gesicht bekomme,
verschlägt mir die Sprache. Mein Schwindelgefühl ist abrupt in den Hintergrund
gerückt. »W-Was ist d-das?«, stottere ich entsetzt und zeige auf den schwarzen Koffer,
den die eine Horror Schwester mit Shrimati Nainas Hilfe auf meinen Schreibtisch
hievt.
»Unser kleines Schminkkästchen.«
Schminkkästchen
ist schlichtweg untertrieben – und klein ist es auch nicht. Es ist eher ein
saugroßer, megaabnormaler Schminkkasten, mit dem man mal eben einen Menschen erschlagen
kann. Sogar den Hulk könnte man damit lahmlegen, so groß ist das Teil. Und
darin befinden sich unendliche Pinsel verschiedener Größen, eine gigantische
Palette mit Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, und anderes
Schminkzeugs. Sie gleichen Folterinstrumente.
Mit einem
rupft man Wimpern; mit einem anderen kann man Augäpfel rauslöffeln.
Die wollen mich
umbringen.
Es
dauert eine ganze Stunde, bis sie fertig mit meinem Make-up sind. Und ich fühle
mich, als trüge ich eine Maske. Oder als hätte man mir soeben Botox ins Gesicht
gespritzt.
Nicht – angenehm.
»Hey!«, meckere ich und schlage der einen
Horror Schwester, die versucht hatte mir mein Superman T-Shirt auszuziehen, auf
die Hand. »Was soll das?« Höflich sein,
Priya. »W-Was macht ihr mit mir?«, füge ich ein wenig netter hinzu.
»Jetzt kommt der große Augenblick,
Priyanka.«
Ich hebe beide Brauen und neige meinen
Kopf nach rechts.
»Dein Kleid, Kumari Priya!«, seufzt
Shrimati Naina und schlägt sich beide Hände auf den Mund. »Kann’s kaum erwarten!«
»Darf ich vorher wenigstens sehen«, was ihr mit meinem Gesicht angestellt habt?,
denke ich, »wie mein Make-up aussieht?«, frage ich.
Ohne Vorwarnung schubsen mich beide Horror
Schwestern vom Stuhl. Beinahe wäre ich auf die Schnauze gefallen, hätte ich mich
nicht rechtzeitig mit den Händen abgestützt.
»Ausziehen!«, rufen die Horror Schwestern im
Chor und klatschen – Kindern an ihrem ersten Schultag gleich – aufgeregt in die
Hände.
Shrimati Naina kommt zu mir angerannt. Nach
einer Minute stehe ich splitterfasernackt in meinem Zimmer. Hatte ich gemeint,
der Tag könne nicht schlimmer werden?
Großer Irrtum.
Und
da stehe ich nun. In einem Sari, geschminkt und mit Bindi. Mein Sari war
tiefblau und an meinem Dekolleté schimmern goldene Steinchen. Anders wie bei
meinem grünen Sari, auf dem ich versehentlich Chicken Tikka Masala gekleckert habe,
kratzt dieser Stoff nicht, sondern schmiegt sich sanft an meine Haut. Erleichtert
atme ich den Stress der letzten Tage aus. Das Schlimmste ist vorüber. Ich habe
es überstanden. Ich bin für meine Verhältnisse höflich geblieben. Habe meine
Zunge im Zaum gehalten. Mutter muss einfach
gnädig mit mir sein.
Ich sehe in die Runde. Acht Augen sind auf
mich gerichtet. Ich meine sogar ein kleines Lächeln auf Mutters Lippen erkennen
zu können. Sie wird mich ziehen lassen. Ganz sicher.
»Oh, Kumari«, säuselt Shrimati Naina und
wischt sich eine Träne von den Augenwinkeln, »Sie sehen wunderschön aus.«
Die Horror Schwestern legen mir zum
Abschluss goldenen Schmuck an. Sie summen zu einer grauenhaften Melodie, als
sie mich zu meinem großen Spiegel schieben. Und dann trifft mich der Schlag. Das
Mädchen, das ich darin sehe, ist jemand anderes – aber nicht ich. Ich kenne sie
nicht; sie ist mir völlig fremd. Mein Herz pocht mir bis zum Hals, als ich mich
langsam dem Spiegel nähere. Ich streiche mir über die Wangen und lasse dabei das
fremde Mädchen im Spiegel nicht aus den Augen. Auch ihre grünen Augen bleiben
skeptisch auf mich geheftet, während sie meine Bewegung exakt nachahmt.
Die
langen, schwarzen Locken des Mädchens fallen über ihre Schultern und bilden
eine perfekte Harmonie mit der Farbe ihres Saris. An der Taille sitzt ihr der
edle Stoff eng am Körper, wird dann lockerer und streift zuletzt fast den
Boden. Ihr Gesicht gleicht beinahe einer Puppe, wäre da nicht die kräftige Nase
... »Was habt ihr mit mir gemacht?«, flüstere ich entsetzt.
Ich habe gewusst, was auf mich wartet.
Aber dieser Anblick ist schlichtweg ein Schock. Nie wollte ich wie die anderen
Mahilas sein – wie die ganzen komischen Tussen auf den Straßen, die denken, sie
müssen sich für die Männer in Mumbai aufstylen. Nie wollte ich so ein Modeopfer
sein – eine Puppe. Und nun reicht ein bisschen Make-up und ein bisschen Stoff,
um mich genau zu dem zumachen? Das bin nicht ich. Das ist nicht die Priya, vor
der die Männer aus dem Weg springen, aus Angst einen frechen Spruch einstecken
zu müssen. Die Priya, die Skateboard fährt und sich mit Jungs versteht, ohne
sie daten zu müssen. Die Priya, die sich nichts Sagen lässt.
Niemand darf mich so sehen. Niemand.
Ein
Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Bevor ich auch nur einen Laut von mir
geben kann, öffnet Shrimati Naina die Tür. Es ist Darshan.
Okay, ich werde heute zur Mörderin.
»Ich weiß … Bin zu früh dran, aber –«
Darshan stockt, als er mich sieht. Ich werde rot wie eine Tomate. »Cousinchen?
Bist du es?« Er lacht. »Hätt‘ dich kaum wiedererkannt! Du siehst so … anders aus.«
»Halt die Klappe, Darshan«, keife ich. »Du
bist im Smoking auch keine Augenweide.«
Darshan verschränkt die Arme vor der
Brust.
»Meinte eigentlich, dass du ganz hübsch
aussiehst«, beginnt er, »wenn man das Gesicht außer Acht lässt.«
»Nun«, sagt Mutter schnell und reibt sich
die Hände, bevor ich kontern kann. »Wie ... wäre es mit einem Masala Chai,
Schwestern? Nach dieser Höchstleistung kann nur ein guter Tee Körper und Geist
beruhigen, nicht?«
»Mh-hm«,
stimmen ihr die Horror Schwestern zu und folgen Shrimati Naina samt Equipment
aus meinem Zimmer. Bevor auch Mutter sich ihnen anschließt, packe ich nach
ihrem Handgelenk und starre sie hoffnungsvoll an. »Ich war heute höflich,
nicht?«
Mutter hebt eine Braue.
»Höflicher als sonst«, füge ich schnell
hinzu.
Mutter wirft mir einen skeptischen Blick
zu, schweigt aber.
»Ich muss nicht mehr zu der
Geburtstagsparty, oder?«
Sekunden verstreichen. Dann lacht Mutter
plötzlich.
»Du wirst dahingehen, Priyanka.«
»A-Aber –«, stottere ich entsetzt.
»Keine Widerworte.«
Mutter verlässt mein Zimmer und ich bin
erstarrt.
Alles
ist umsonst gewesen. Alles. Ich brauchte gar nicht höflich sein. Mutter will
mich bestrafen. Und ihre Strafe liegt nun einmal darin, dass ich, wie eine
Mahila gekleidet, in Aishwaryas Party aufkreuze.
Jeder wird mich sehen. Man wird den
Respekt vor mir verlieren, den ich mir mühevoll über die Jahre verdient habe. Man
wird mich auslachen. Ich, Priyanka Sharma, tanze in einem Sari, mit Bindi und Schminke
an, obwohl ich damals noch große Töne gespukt habe, keine zehn Pferde würden
mich dazu bekommen.
»Ist doch kein Weltuntergang«, sagt
Darshan ohne den Blick von meinem alten Gameboy abzuwenden. »Ein bisschen
feiern, ein bisschen trinken … Weiß gar nicht, was du hast, Cousinchen.«
Erst werfe ich ihm einen überraschten
Blick zu. Habe ganz vergessen, dass er sich immer noch in meinem Zimmer aufhält.
Dann hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen. Im selben Augenblick
trudelt eine brillante Idee in meinen Kopf. »Hey, Darshan?«
»Hm?«, macht er, ohne vom Gameboy
aufzuschauen.
»Sei doch mal ehrlich«, beginne ich. »Du
hast auch nicht wirklich Bock auf die Party, nicht? Wie wär’s, wenn wir beide
uns einfach einen schönen Tag machen? Im Candies oder im Mc Donald’s
vielleicht? Ich lad dich ein! Und wenn Mutter fragt, sagen wir ihr einfach,
dass wir von Aishwaryas Party kommen.« Hoffnungsvoll reiße ich die Augen auf.
Er scheint darüber nachzudenken.
Darshan wirft den Gameboy auf mein Bett.
»Klingt nicht schlecht«, ich bin kurz
davor Freudensprünge zu machen, »aber das Angebot deiner Mutter ist verlockender.«
Und ein zweites Mal falle ich aus allen
Wolken. »Wie viel gibt sie dir?«
»Unbezahlbar für dich«, wispert er nur.
»Darshan, sag schon!«
Er zuckt mit den Achseln und grinst.
»Außerdem würde ich nur zu gerne sehen,
wie andere auf dich reagieren werden. Priyanka Sharma sieht man vielleicht kein
zweites Mal im Sari.« Er lacht laut. »Wenn ich du wäre, würde ich lieber nicht
darüber nachdenken, abzuhauen. Deine Mutter hat noch weit mehr Leute
angeheuert, die dich observieren sollen. Bleib also einfach an meiner Seite,
okay Cousinchen?«